„Haben wir keine Rechte als Menschen und Flüchtlinge in Europa, die eine Grundversorgung für jeden beinhalten? Oft lesen und hören wir, dass wir in diesen Lagern wie Tiere leben müssen, aber wir denken, dass das nicht stimmt. Wir haben die Gesetze zum Schutz der Tiere in Europa studiert und wir haben herausgefunden, dass sie sogar mehr Rechte haben, als wir. […] Also haben wir beschlossen, Sie zu bitten, uns die einfachen Rechte zu gewähren, die Tiere haben.“ Ausschnitte aus dem offenen Brief „Weihnachtsgruß aus Moria II“. Worte, die mich betreffen, als ich sie lese. Sie betreffen mich aber nicht genug. Denn ich lese den Brief am Morgen des 24.12. und am Abend habe ich ihn schon wieder fast ganz vergessen. Vielleicht ein leises Flüstern in meinem Kopf. Aber auch verbunden mit einem fatalistischen Gefühl der Hilflosigkeit. „Wir bitten nicht um weitere Spenden oder Geld für die Instandsetzung der Infrastruktur […]. Wenn Sie uns helfen wollen, fragen Sie stattdessen bitte: Wo ist das ganze Geld geblieben? Warum hat es uns nicht erreicht?“. Geld spenden, das kann ich tun, das habe ich schon getan. Aber wenn es gar nicht dort ankommt? Wo ist das ganze Geld geblieben? In Griechenland, denke ich. Denn die „armen“ Griechen müssen Land abgeben, damit sie Menschen unter schlechteren Bedingungen als Tiere einsperren können. Und wir anderen Europäer? Wir haben Angst, noch mehr Menschen aufzunehmen, die sich nichts weiter wünschen, als die Rechte, die unser Nutzvieh genießt. Und während der Großteil der Deutschen diesen Brief überhaupt nicht zu Gesicht bekommt, weil Menschen anderer Hautfarbe vermeintlich wertlos sind und ganz ehrlich, was soll es sie schon angehen? Sitzen sie doch auf ihren dicken Hintern und schaufeln sich Weihnachtsbraten in die Leiber. Und die anderen Deutschen? Ich? Lese den Brief und bin betroffen, setze mich auf meinen dicken Hintern und schaufel mir Weihnachtsbraten in den Leib. Wie komme ich darauf, ein besserer Mensch zu sein, als der Teil der Deutschen, der sich überhaupt erst gar nicht damit befassen möchte? Denn im Grunde fehlt es mir auch an der nötigen Empathie. Ich weiß nicht, wie es ist, dort zu leben. Ich kann es mir vielleicht vorstellen, aber es richtig fühlen? Denn ich bin privilegiert. Ich schlafe in meinem weichen Bett, ich dusche mit warmen Wasser, ich habe ein Dach über meinem Kopf, wenn es regnet. Die größte Angst, die ich je erleben musste, war so belangloser Art, dass ich mich nicht einmal mehr daran erinnern kann. Wie soll ich es auch fühlen können? Und wenn ich es nicht fühlen kann, wie soll ich dann überhaupt die nötige Kraft aufbringen, meine Mitmenschen zu retten?
25.12. abends. Wir sitzen in unserem Wohnzimmer. Wir, das sind mein Vater, meine Oma, mein Freund und ich. Wir unterhalten uns über Musik. Mein Vater ist Trompeter und Dirigent. Zu Weihnachten hat er von uns die Schallplatte „Children of Sanchez“ geschenkt bekommen. Musik komponiert von Chuck Mangione für den gleichnamigen Film. Musik, die meinen Vater tief bewegt. Ich spiele den ersten Titel des Albums ab. Er beginnt mit englischem Gesang. Mein Vater übersetzt den Text, damit meine Oma verstehen kann, um was es geht. Wir anderen sitzen ganz still da.
„Ohne Träume der Hoffnung und Stolz stirbt der Mensch. […]
Jeder Mensch braucht einen Lebensraum mit Würde. […]
Nimm den hungernden Kindern die Nahrung und sie werden nicht weinen.
Nahrung allein wird den Hunger in ihren Augen nicht lindern.
Jedes Kind gehört zur Familie der Menschheit. […]
Lasst sie die Liebe der gesamten Menschheit fühlen. […]
Wenn meine Kinder wachsen werden meine Träume lebendig. […]“
Und dann fühle ich es. Kälte auf meiner Haut. Wind. Ich nehme die Gerüche meiner Umgebung wahr. Höre das rascheln der Planen, prasseln des Regens. Fühle Angst und Schmerz. Mein Herz fängt an schwer zu werden. Es tut weh. Die Hilflosigkeit wächst. Gefühle werden geweckt, die Worte allein nicht auslösen konnten. Der Gesang endet und ich wache wieder auf. Schaue mich um. Merke, dass es uns alle tief getroffen hat.
Und trotzdem. Sitzen wir hier, im Warmen. Und sie sind immer noch dort. Können nicht aufwachen, denn es ist real. Für sie.
26.12. morgens. Wir sitzen in der Küche. Meine Schwester lässt ein Video ablaufen, das ihr eine Freundin geschickt hat. Das Ei – eine Kurzgeschichte von Andy Weir (gekürzt).
„Du warst auf dem Heimweg, als du gestorben bist. Es ist besser so, glaub mir. Und dann, hast du mich getroffen. ‚Bist du Gott?‘ Ja, das bin ich. ‚Also… was passiert jetzt?‘ Du wirst wiedergeboren. Deine Seele ist großartiger, schöner und gigantischer, als Du es dir auch nur ansatzweise vorstellen kannst. ‚Wie oft wurde ich schon wiedergeboren?‘ Oft, sehr oft. Und in jede Menge unterschiedliche Leben. Dieses Mal wirst du ein chinesisches Bauernmädchen 540 nach Christus. ‚Aber warte, wenn ich zu unterschiedlichen Zeiten wiedergeboren werde, könnte ich mir ja irgendwann selbst begegnet sein.‘ Sicher, das passiert dauernd. Und da beide Inkarnationen sich nur ihrer eigenen Lebensspanne bewusst sind, merkst Du nicht einmal, dass es passiert. ‚Was ist dann der Sinn von alledem?‘ Der Sinn des Lebens, der Grund dass ich dieses ganze Universum erschaffen habe, ist, damit Du Dich weiterentwickeln kannst. ‚Du meinst die Menschheit?‘ Nein, nur Du. Ich habe dieses ganze Universum für Dich gemacht. In diesem Universum sind nur Du und ich. ‚Aber all die Menschen auf der Erde…‘ Sind Du. Verschiedene Inkarnationen von Dir. ‚Ich bin jeder Mensch, der je gelebt hat?‘ Oder der jemals leben wird, ja. ‚Ich bin Hitler?‘ Und du bist die Millionen, die er umgebracht hat. Jedes Mal, wenn du jemanden misshandelt hast, wurdest Du selbst misshandelt. Jeder glückliche und traurige Moment, der je von einem Menschen erlebt wurde oder werden wird, wird von Dir erlebt.“
Alles, was du jemand anderem angetan hast, hast du dir selbst angetan. Jedes Gefühl, das jemals gefühlt wurde, hast du gefühlt.
Zwischen den Menschen ist etwas Spirituelles. Die einen nennen es Gott. Für mich ist es Liebe. Die Bezeichnung spielt keine Rolle. Es ist dort. Eine Verbundenheit. Spürbar, fast greifbar. Und trotzdem liegt es für Viele in so weiter ferne. Wie kann das sein? Wie kann Hass auf Mitmenschen entstehen? Hass auf andere Ethnien oder Religionen? Hass auf Geschlechter. Viel schlimmer als Hass ist doch eigentlich die Gleichgültigkeit. Denn Hass weckt wenigstens auch Widerstand in den Liebenden. Gleichgültigkeit weckt gar nichts. Und wir sind gleichgültig geworden. Zumindest ein großer Teil von uns. Religion, Glaube, Spiritualität sind uns abhanden gekommen. Glaubende werden belächelt. Mitgefühl ist „zu sentimental“. Glücklich sein ist erlaubt. Wut, Trauer, Angst – das möchte doch niemand sehen. Wir sitzen in unseren warmen Häusern und schauen Nachrichten. Sehen, wie Menschen sterben und denken uns, wie schlimm das doch ist. Aber kann es jemand fühlen? Wenn ich anfange, Nachrichten zu fühlen, wirkt es beinahe endlos. Beinahe übermannend. Wie soll ich damit fertig werden? Alles zu fühlen weckt den Weltschmerz. Und Alles ändern? Was kann ich schon tun? Ich kann nicht nach Moria fahren. Ich kann nicht jeden meiner Mitmenschen retten. Was ich tun kann, ist fühlen. Ihren Schmerz, ihre Angst nachvollziehen. Verstehen, dass jeder Mensch das gleiche fühlen kann, was ich fühle. Mir vorstellen, das Leid, was ich anderen antue, wird mir selbst angetan. Und ich kann diese Botschaft weiter verbreiten. Denn egal, welches Gefühl ausgelöst wird, es verdrängt die Gleichgültigkeit. Und vielleicht erreicht es irgendwann die Richtigen. Diejenigen, die nach Moria fahren können. Diejenigen, die die Spendengelder verteilen. Diejenigen, die Entscheidungen treffen dürfen. Ich kann mich stark machen, wenn meinen Mitmenschen in meinem Umfeld Unrecht getan wird. Ich kann erkennen, wenn ich selbst Vorurteile habe. Ich kann Geld spenden. Aber vor Allem muss ich aufhören, Gleichgültig zu sein.