Leerer Magen.
Abnehmen, weniger werden.
Weniger Raum einnehmen. Wertvoller sein.
Die Kontrolle bewahren. Besser sein.
Diszipliniert sein. Stark sein. Perfekt sein.
Unbesiegbar. Glücksgefühle.
Emotionale Achterbahn. Einsamkeit, Traurigkeit.
Verlustängste. Wut. Zurückweisung.
Negative Emotionen.
Überwältigend. Hilflos.
Essattacke
Fett. Fett. Fett.
Versager. Ekelhaft. Fettes Schwein.
Jämmerlich. Wertlos.
Essattacke. Unaufhaltsam.
Sucht.
Essen, um Gefühle zu verschieben.
Essen, um sich selbst zu bestrafen.
Essen, um sich selbst zu betäuben.
Essen, um irgendetwas zu fühlen.
Essen, um etwas anderes zu fühlen.
Essen als Therapie.
Bist du emotionaler Esser?
Was muss passieren, damit Essen zur Sucht wird?
Negative Emotionen sind gesellschaftlich nicht oder kaum toleriert. Die wenigsten Kinder lernen, sich mit ihren Emotionen (zB Wut) auseinanderzusetzen. Sie zu hinterfragen und die Gefühle dahinter zu erforschen. Viel eher werden sie für negative Emotionen bestraft, weil sie sich anders verhalten, als es die Gesellschaft vorschreibt. Dadurch lernen sie, dass ihre Emotionen schlecht oder unerwünscht sind. Sie lernen, sie zu verdrängen oder zu unterdrücken. Sie werden zu erwachsenen Menschen, die nicht wissen wie sie mit ihren Emotionen umgehen sollen.
Emotionen wie Trauer, Wut, Einsamkeit oder Angst erscheinen unüberwindbar und endlos. Aus Angst, unter der Last der Emotionen zu zerbrechen, schieben wir sie beiseite. Wir wenden uns einem Lebensinhalt zu, der unendlich ist: dem Abnehmen.
„Wenn ich erst mal dünn bin, bin ich stark.“
„Wenn ich erst mal dünn bin, wird mein Leben schön.“
„Wenn ich erst mal dünn bin, werde ich wertvoll sein.“
Wenn wir mit dem einzigen Ziel, Gewicht zu verlieren, abnehmen, stellen wir fest, dass wir immer noch dieselben Menschen sind, die wir vor dem Abnehmen waren. Sind wir glücklich? Manchmal. Meistens reicht es uns nicht. Wir fühlen uns immer noch gleich. Wir denken, weil wir uns immer noch schlecht und traurig oder leer fühlen, müssen wir weiter abnehmen. Wir denken, wenn wir erst mal dünn(er) sind, haben wir genug Kraft, um uns mit unseren tiefsten Abgründen auseinander zu setzen. Dass das Gefühl, wertlos zu sein, einen weitaus tieferen Ursprung haben könnte, als die Zahl auf der Waage, kommt uns nicht in den Sinn. Wir haben auch keine Zeit für solche Gedanken. Unsere Gedanken drehen sich pausenlos ums Essen. Vielleicht auch um Kalorien, die gezählt werden müssen. Oder die zu viel gegessen wurden. Sich mit dem Abnehmen zu beschäftigen, kann einen Menschen geistig komplett ausfüllen.
Dass ich Hunger verspüre, ist ein Trugschluss. Mein Körper ist nicht dazu in der Lage, Hunger zu erkennen. Wenn ich erst einmal anfange zu essen, ohne die Mahlzeit vorher zu regulieren, kann ich nicht mehr damit aufhören.
Nach dem Aufstehen mache ich drei Stunden Sport. Ich stehe immer um fünf Uhr auf, damit ich genug Zeit dafür habe. Danach esse ich einen Apfel und eine Banane mit Zimt – 130 kcal. Dann gehe ich zur Uni. Dort esse ich nichts. Ich trinke drei Kaffee. Abends, nach den Vorlesungen, ist mein Kopf vollgestopft mit Informationen. Durch den Kaffee zittere ich. Ich habe Kopfschmerzen. Ich laufe den Weg nach Hause, 2 km. Gehe beim Supermarkt vorbei, um mir mein Abendessen zu kaufen. Ich plane immer ein, dass ich Abends sehr hungrig bin. Deshalb esse ich tagsüber so wenig. Ich esse außerdem keine tierischen Produkte, keine Kohlenhydrate und nur wenig Fett. Meistens mache ich mir Kidneybohnen mit Tomatensoße. Heute auch. Als ich an der Kasse stehe, wird mir ein wenig schwarz vor Augen. Das kenne ich schon. Das liegt bestimmt am Kaffee. Ich wiege alles was ich esse und trage es in meine Kalorienzähler-App ein. Niemals mehr als 800 kcal am Tag.
Mein Magen blubbert. Er war so lange leer. Er bläht sich auf. Ich fühle mich fett und unansehnlich. Und ich habe noch Hunger. Wie viele Kalorien waren es heute? 648. Das ist gut. Ich kann noch ein bisschen was essen. Ich hole mir eine Reiswaffel mit Honig. Das reicht für heute. Mehr nicht. Aber ich kann nicht aufhören. Ich hole mir noch eine Reiswaffel mit Honig. Jetzt sind die Reiswaffeln leer. Ich nehme einen Löffel und esse den Honig so. Dann das Glas Marmelade, das noch in meinem Kühlschrank steht. Ich mache mich weiter auf die Suche nach Essbarem. Ich finde Haferflocken. Ich esse und esse und esse. Bis ich mich nicht mehr bewegen kann. Dann hasse ich mich selbst. Und gehe schlafen. Am nächsten Tag stehe ich auf und mache drei Stunden Sport. Ich muss das Fett von gestern loswerden. Und mich bestrafen.
Dass das ein Hamsterrad ist, bemerke ich zu diesem Zeitpunkt nicht. Aber ich bemerke etwas Anderes. Dass das kein Leben ist. Dass ich mir mein Leben so nicht vorgestellt habe. Ich bemerke, dass ich keine Lust mehr habe, mich selbst zu hassen. Und ich bemerke, dass Essen für mich viel mehr ist, als nur Essen. Ich bemerke, dass Abnehmen zu wollen eine Strategie ist, um mich von meinen Emotionen abzulenken. Davon, dass ich mich einsam fühle. Davon, dass ich mich ungeliebt fühle. Davon, dass ich nicht weiß, wer ich bin. Davon, dass ich denke, ich bin wertlos. Ich beschließe, dass ich nicht mehr abnehmen möchte. Das war die beängstigendste Entscheidung meines Lebens. Auf einmal gab es nichts mehr, worüber ich nachdenken konnte. Ich hatte keine Ziele mehr. Keine Zukunft. Auf einmal war da nur noch ein Hier und Jetzt.
Wenn du bemerkst, dass du hungrig bist, nimm dir Zeit. Setze dich hin und erforsche, ob du körperlichen oder seelischen Hunger empfindest. Wenn du seelischen Hunger empfindest, frage dich, ob es dir wirklich helfen würde jetzt zu essen. Wenn die Antwort darauf ja ist, dann iss. Aber setze dich bewusst hin. Zelebriere dein Essen. Fühle es. Wie ist die Konsistenz? Wonach schmeckt es? Wenn es sich in deinem Mund anfühlt wie Asche, hilft es nicht. Wenn du es nicht schmecken kannst, weil du versuchst ein seelisches Loch mit etwas Materiellem zu stopfen, hör auf damit. Nimm dir Zeit, deine Gefühle zu erforschen. Unterdrücke sie nicht.
Wenn du bemerkst, dass du körperlichen Hunger hast, erforsche weiter, worauf du gerade hungrig bist. Es gibt keine Grenzen. Du möchtest gerne Kekse essen? Iss. Aber frage dich nach jedem Bissen, bin ich noch hungrig? Genieße jeden Krümel. Hör auf zu essen, wenn du nicht mehr hungrig bist. Lege die Kekse beiseite. Wenn du das nächste Mal hungrig bist, kannst du mehr davon essen. Oder du isst etwas anders. Ganz egal, was. Das, worauf du hungrig bist. Es gibt keine Verbote.
Eine verletzte Seele braucht Zeit um zu heilen. Finde Zugang zu dir selbst. Lerne, deine Bedürfnisse zu erkennen. Jedes Mal, wenn du dich gegen die Schokolade und für das Ergründen deiner Gefühle entscheidest, lernst du etwas Neues über dich. Erst, wenn du den Kampf mit deinem Körper beendest, kannst du gesund werden.
Wenn du anfängst auf deinen Körper zu hören und nur isst, wenn du hungrig bist und aufhörst, wenn du satt bist, wird dein Körper ein gesundes Gewicht erreichen. Für manche bedeutet das, dass sie zunehmen. Andere werden Gewicht verlieren. Jeder Körper ist anders. Du wirst ein für dich gesundes Gewicht erreichen. Dein Ziel ist nicht, abzunehmen. Dein Ziel ist es, gesund zu werden.
Und wenn du das nächste Mal eine Essattacke hast, werde dir dessen bewusst. Setze dich hin. „Ich esse gerade, obwohl ich nicht hungrig bin. Ich fühle mich gerade traurig/wütend/einsam/minderwertig etc. Ich brauche die Fülle an Essen in meinem Körper. Nur, weil ich einmal zu viel gegessen habe, werde ich morgen nicht fett sein. Selbst wenn ich morgen mehr wiege, bin ich deshalb nicht weniger Wert. Ich bin wertvoll, egal wie ich bin.
Es wird weniger werden. Und irgendwann bemerkst du, dass du Essen nicht mehr brauchst, um deine Gefühle beiseite zu schieben.
Diesen Beitrag finde ich sehr wertvoll. Er gefällt mir sehr, weil er so viele Facetten einer Esstörung und auch den Weg hinaus beschreibt. Ich war selbst eine lange Zeit betroffen. Danke. Theia
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