Ich bin 9 Jahre alt. Meine Schwester ist 4. Wir sitzen in Lissabon in der Wohnung unserer Tante. Es ist spät abends. Hals über Kopf haben wir Deutschland verlassen. Nelson, unser Cousin, liegt im Sterben. In wenigen Wochen könnte alles vorbei sein. Morgen wollen wir ihn besuchen, uns von ihm verabschieden. Plötzlich sagt meine Schwester „Mama, Nelson ist tot“. Meine Mutter ist irritiert. „Nein mein Schatz. Er ist nicht tot. Wir gehen ihn morgen besuchen“. „Nein Mama. Nelson ist tot“. Wenige Minuten später erreicht uns ein Anruf. Nelson ist tot.
Ich bin 13 Jahre alt. Es ist Freitagabend – meine Eltern sind beide unterwegs. Mein Vater ist nach der Musikprobe noch im Proberaum geblieben, meine Mutter ist auf dem Oktoberfest. Ich liege im Bett, aber ich kann nicht schlafen. Irgendetwas beunruhigt mich. Ich gehe nach oben, zum Schlafzimmer meiner Eltern, lege mich in das Bett und warte. Warte. Ich fühle mich leicht panisch. Mein Herz klopft wie wild. Dann höre ich die Haustür. Ein Schlüssel kratzt daran. Kichern, laute Stimmen. Die Haustür geht auf. Meine Mutter wankt hinein. Die andere Person verabschiedet sich, geht. Meine Mutter torkelt die Treppe hinauf. Ich stehe schnell aus dem Bett auf, möchte sie begrüßen. Sie schaut mich an, aber erkennt mich nicht. Leerer Blick. Geht einfach an mir vorbei. Zwei Anläufe, bis sie es durch die Badezimmertür schafft. Jetzt bin ich wirklich panisch. Ich fange an zu weinen, renne in mein Zimmer. Ich weiß nicht, was ich tun soll. Ich krieche in mein Bett, liege wach. Wenige Sekunden später höre ich, wie die Tür erneut aufgeht. Mein Vater kommt nach Hause. Ich höre, wie er die Treppe hinauf stürmt. Ich höre, wie sich meine Mutter übergibt. Ich höre, wie sie weint. Ich höre sie die ganze Nacht. Am nächsten Morgen ist sie ganz bleich und schwach. Drei Tage kann sie nichts essen. Vermutlich K.-o.-Tropfen. Mein Vater erzählt, dass er den ganzen Abend ein ungutes Gefühl hatte und deshalb früher nach Hause gekommen ist. Meine Schwester ist, als meine Mutter von ihren Freund:innen abgeholt wurde, extra nochmal zur Tür gegangen und hat ihr gesagt, sie solle auf sich aufpassen.
Zufall?
War es Zufall, dass meine Schwester sagte, Nelson sei gestorben? Zufall, weil sie noch so ein kleines Kind war und nicht richtig verstanden hat, worum es geht?
Zufall, dass ich den ganzen Abend ein ungutes Gefühl hatte, als es meiner Mutter so schlecht ging? Zufall, dass mein Vater viel früher als geplant nach Hause kam? Dass meine Schwester ihr extra nochmal gesagt hat, sie solle auf sich aufpassen?
Die oben geschilderten Situationen sind mir besonders im Kopf geblieben, aber auch im Alltag passieren immer wieder Momente, die mich an eine zwischenmenschliche Verbindung glauben lassen, die materiell nicht greifbar ist. Das Gefühl beobachtet zu werden, um festzustellen, dass man tatsächlich beobachtet wird. Der Moment, wenn man einer alten Bekannten eine Nachricht schreiben möchte und genau dann eine Nachricht von dieser Bekannten bekommt. Wenn man ein bestimmtes Lied im Kopf hat, das Radio einschaltet und genau dieses Lied abgespielt wird. Zufälle? Schon möglich.
Manchmal denke ich, es ist ein einfacher Weg, diese Situationen als Zufälle zu bezeichnen. Denn auf Zufälle hat man keinen Einfluss. Zufälle passieren einfach. Zufälle sind wissenschaftlich erklärbar. Übersinnliche Fähigkeiten nicht.
Bevor am 26. Dezember 2004 ein Tsunami die Küste von Sumatra überschwemmte flüchteten die Elefanten ins Landesinnere. Nicht umsonst lautet eine Zeile eines alten indonesischen Kinderlieds „Wenn die Tiere verrückt spielen, lauf weg vom Meer und geh ins Hochland“.
Forscher wollten diesem tierischen Sinn für Unheil auf den Grund gehen. Für diesen Zweck statteten sie Ziegen, die in der Nähe des Ätnas lebten, mit Sensoren aus, um ihre Bewegungsdaten zu messen. Und tatsächlich: das Bewegungsverhalten der Ziegen veränderte sich wenige Stunden, bevor der Vulkan ausbrach. Vulkanausbrüche konnten anhand der Bewegungsdaten relativ sicher (retrospektiv) vorhergesagt werden.
In einem anderen Experiment haben Forscher das Verhalten von Erdschildkröten nahe der Stadt L’Aquila studiert. Bereits fünf Tage vor einem schweren Erdbeben stellten die Tiere ihr Laichverhalten ein und verhielten sich ungewöhnlich.
Wenn Tiere Unheil spüren können, bevor es geschieht, können Menschen das vielleicht auch? Und wenn Menschen das auch können müssten warum haben die meisten keinen Zugang zu dieser Fähigkeit?
Übersinnlichkeit, Bauchgefühl, Intuition. Menschliche Fähigkeiten, die wissenschaftlich nicht greifbar sind. Fähigkeiten, die uns immer mehr abtrainiert werden. Der moderne Mensch denkt rational. Entscheidungen werden aufgrund ihres Für und Wieder abgewogen. Das Bauchgefühl spielt dabei kaum eine Rolle. Das gilt auch für ganz alltägliche Lebensbereiche: Wir zählen unsere Schritte und Kalorien, tracken unseren Schlaf und Puls. Wir verlernen dabei komplett auf uns Selbst zu hören. Wir wissen nicht, wie es uns geht, solange unser Smartphone keine dazugehörigen Daten ausspuckt.
Dazu kommt Schnelllebigkeit. In der einen Sekunde ploppt eine Werbeanzeige auf, in der anderen ist sie schon wieder verschwunden. Während der Nachrichtenmoderator die Ereignisse des Tages schildert, läuft in der unteren Hälfte des Fernsehers ein Nachrichtenbanner mit schriftlichen Eilmeldungen. Wir hetzen von einem Termin zum anderen. Effizienz wird groß geschrieben. Innehalten – in sich Selbst hinein hören. Die eigenen Bedürfnisse erkennen. Das macht heutzutage doch niemand mehr. Das geht so weit, bis wir an unserem Arbeitsplatz sitzen und – einfach zusammenbrechen.
Und dann die Frage, die immer wieder gestellt wird: hast du denn gar nichts bemerkt?
Ja, habe ich nichts bemerkt? Oder habe ich es schon irgendwie bemerkt, es aber einfach beiseite geschoben? Weil Intuition und Bauchgefühl unbedeutend sein müssen. Nicht greifbar, nicht erklärbar. Keine wissenschaftliche Grundlage haben. Ganz anders, im Vergleich zu handfesten Daten und rationalen Argumenten.
Wenn der moderne Mensch es nicht einmal schafft, seine eigenen seelischen und körperlichen Signale zu deuten – ist es immer noch so verwunderlich, dass ihm die Fähigkeit, übersinnliche Dinge zu spüren, abhanden gekommen ist?
Wissenschaft ist nichts festes. Wissenschaft ist ein Fluss aus Erkenntnissen. Jeden Tag kommt eine neue dazu. Und jeden Tag werden alte Annahmen berichtigt, müssen Platz machen, für die neuen Erkenntnisse. Nur, weil etwas wissenschaftlich noch nicht erklärbar ist, heißt es nicht, dass es nicht tatsächlich existiert. Tiere spüren Unheil bevor es geschieht. Wir können diese Unruhe der Tiere messen. Erklären können wir sie trotzdem nicht. Aber brauchen wir wirklich eine Erklärung, damit wir daran glauben können? Oder macht uns die Vorstellung, die Welt ist größer und unfassbarer, als wir erklären können, einfach nur Angst?
Quellen: