Nachts eine Frau sein- So wirst du als Mann Teil der Lösung

Ich habe aufgehört zu zählen.
Zu zählen, wie oft ich meine Hände in der Jackentasche um den Schlüssel geklammert habe, für den Fall, dass ich zustechen muss.
Zu zählen, wie oft ich die letzten Meter nach Hause gerannt bin.
Wie oft ich die Kopfhörer zwar im Ohr, aber aus hatte. Nur für alle Fälle.
Ich habe aufgehört zu zählen, wie oft Männer mir hinterherrufen, ihren Kopf aus dem Auto strecken, pfeifen oder auch einfach nur gucken.
Ich habe aufgehört zu zählen, als ich ungefähr 12 war. Als solche Ereignisse sich häuften, als ich es nicht mehr schmeichelhaft fand, für attraktiv gehalten zu werden. Als Einzelfälle zum Standard wurden und Schmeicheleien zu Anzüglichkeiten.

Ich habe aufgehört zu zählen, ja. Aber ich kann sehr genau sagen, wann das letzte Mal war. Das letzte Mal, als ein Mann seinen Kopf aus dem Fenster gesteckt hat, um mich anzusehen, hinterherzurufen, zu pfeifen. Das war gestern, ungefähr fünf Mal. Davor war vor drei Tagen. Das letzte Mal, als ich meine Schlüssel fest umklammert hielt, weil es dunkel und ich alleine war, war vor einer Woche. Das letzte Mal nach Hause gerannt bin ich an dem selben Tag.

Als ich 12 war, hatte ich noch keinen Begriff für so etwas. Heute schon: Sexismus. Die schockierende Tatsache, dass nicht nur ich mein Handy fest umklammert halte, wenn ich nach Hause laufe. Jede Frau kennt dieses Gefühl. Es ist das Gefühl, wenn alles in meiner Umgebung zum Feind wird. Wenn ich an der Straße entlanglaufe und ein Auto direkt neben mir anhält: Wenige Sekunden, Herzalarm. Jetzt könnte es soweit sein, Panik. Dann kommt das Auto wieder ins Rollen. Mein Kopf hielt es für wahrscheinlicher, dass in diesem Auto eine böswillige Person sitz, als dass es wegen einer roten Ampel hält. Irrational?

Als ich in der zweiten und dritten Klasse war, musste ich in der Schule einen Selbstverteidigungskurs besuchen. Was mir noch im Kopf geblieben ist? Im Zweifel darf ich Augen ausstechen. Außerdem: „Fangen, quetschen, ziehen, drehen.“- das mussten wir damals so oft im Chor aufsagen, bis auch die letzte Schülerin es auswendig wusste.
Ich habe ein Handwerk bekommen, das mich schützen sollte. Vor der bösen Welt da draußen. Wenn ich heute nachts alleine nach Hause laufe, wiederhole ich manchmal die Worte meiner Kurslehrerin gedanklich. Fangen, quetschen, ziehen, drehen. Fangen, quetschen, ziehen, drehen. Fangen, quetschen, ziehen, drehen. Übertrieben?

Die Männer gucken doch nur. Oder sagen halt mal was, ist doch nichts dabei. So lange man nicht vergewaltigt wurde…
Ist wirklich nichts dabei, wenn ein Mann nach einem: „Du bist nett, aber ich habe einen Freund und möchte dir meine Nummer nicht geben.“, weiter nachhakt? Wenn Männer darum bitten, nicht immer direkt so schroff zu sein- weshalb verstehen die meisten von ihnen ein direktes, aber nett formuliertes ‚Nein‘ dann nicht? Und woher weiß ich, wer es verstehen wird und wer nicht?
Ist wirklich nichts dabei, wenn ich im Zug stehe, dieser zum Halten kommt und ich beim Herausgehen in den Po gekniffen werde? Das, von einem alten Klassenkameraden aus der Grundschule. Wenn Männer das machen, die man lange kennt und von denen man nicht denkt, dass so etwas passiert- woher soll ich als Frau dann wissen, welcher einer von den „Guten“ ist?
Ist wirklich nichts dabei, wenn ein Auto neben mir zum stehen kommt und der Fahrer das Fenster herunter rollt, daraufhin mich und eine Freundin fragt, ob wir uns noch Geld dazuverdienen wollen? Woher weiß ich als Frau, dass der Mann bei einem „Nein!“, nicht wütend wird? Es waren ja nur Worte. Nichts schlimmes. So lange niemand vergewaltigt wurde, ist ja nichts passiert.

Doch, das ist es. Es ist etwas passiert, in jedem der oben aufgelisteten Fälle. In jedem Fall bedeutet es Angst, Unsicherheit. Es bedeutet, dass ich mich in einer Welt bewege, in welcher ich alleine nicht sicher bin. Eine Vergewaltigung, sexueller Missbrauch ist „nur“ die Spitze des Berges. Alles darunter ist nicht ok. Auch, wenn es Dinge gibt, die noch viel grausamer sind. Wenn du ein Mann bist, dann wirst du niemals verstehen, wie es sich anfühlt, nachts als Frau alleine nach Hause zu laufen. Du kannst aber darüber nachdenken, ob du deine Freundinnen und Bekannte wirklich nicht begleiten willst. Oder mit ihr telefonieren. Denn sie wird, und das ist sicher, sich in einer Welt bewegen, die vollkommen anders aussieht, als deine. In ihrer Welt ist alles Gefahr. Mit dir ist es das nicht mehr, mit dir ist da zwar Gefahr, aber in einem beschütztem Rahmen. Du tust mehr, als du denkst, wenn du mit ihr Nachrichten hin und her schreibst, sie begleitest. Oder, wenn du selbst unterwegs bist, ihr aus dem Weg gehst. Oder, wenn du mit deinen Kumpels unterwegs bist und sie einer Frau hinterher gucken, ihnen sagst, dass das nicht ok ist. Dass es Schaden anrichtet.
Wenn du ein Mann bist, dann bist du Teil der Lösung. Das macht dich aber auch zum Teil des Problems, das sollte dir bewusst sein. Wenn du dich derweilen angegriffen fühlst und in Abwehrhaltung gehst, denke darüber nach: Du bist Teil der Lösung. Mit deinem Verhalten kann sich wirklich und nachhaltig etwas ändern. Wie verhältst du dich?

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