Das ist kein Text über Rassismus. Und auch kein Text über Ausländerfeindlichkeit. Das ist ein Text über die zweite und dritte Generation aus (teil-)immigrierten Familien. Generationen, Menschen, die kaum thematisiert werden. Aber es gibt uns: Menschen, die sich innerlich gespalten fühlen. Nicht, weil sie nicht als deutsch anerkannt werden – aber weshalb dann?
EM 2008, Portugal gegen Deutschland
Ich bin 8. Heute ist das EM Viertelfinale. Meine Mama hat heute Morgen ein rotes Trägertop mit Portugalflagge darauf für mich herausgelegt. Irgendwo in der hintersten Ecke ihres Kleiderschranks, kramt sie ein Tuch heraus, auf dem ebenfalls eine Portugalflagge gedruckt wurde. Neben mir steht meine große Schwester. Sie trägt ein Deutschlandtrikot. Wir beide haben etwas Farbe ins Gesicht geschmiert bekommen und sind bereit für das heutige Spiel: Deutschland gegen Portugal. Ich werde das Spiel zusammen mit meiner Mama in einem kleinen portugiesischen Lokal gucken. Hier sind immer alle ihre Freund:innen, die gemeinsam mit ihr nach Deutschland gekommen sind. Ich liebe diese Ausflüge. Ich verbinde sie mit portugiesischem Essen, Freund:innen, einer portugiesischen Mentalität und Atmosphäre. Diese Dinge vermisse ich hier, in Deutschland, ständig.
Gemeinsam mit den anderen Kindern, gucken wir Fußball. In Aussicht: Portugals Niederlage. 2:3 für Deutschland. Geknickt aber zufrieden, weil wir uns alle wiedergesehen haben, gehen meine Mama und ich nach Hause. Zuhause freuen wir uns und feiern mit Marlies und Papa, weil Deutschland gewonnen hat. Der Abend ist wunderschön. Erfüllt mit Liebe, krieche ich ins Bett. Am nächsten Tag gehe ich in die Schule. Alle sprechen über das Spiel. Ich werde ausgelacht, weil ich für Portugal war. Man sagt mir, dass es falsch ist, für Portugal gewesen zu sein. “Du bist doch gar keine Portugiesin!”, “Du bist deutsch!”, ich muss mir ein paar Tränen verkneifen. Ich verstehe das alles nicht und kann mich nicht wehren. Wieso bin ich keine Portugiesin? Darf ich nicht beides sein?
Familien mit Migrationshintergrund
Ich bin Portugiesin. Ich bin außerdem auch deutsch. Rein körperlich, biologisch betrachtet, bin ich ganz genauso portugiesisch, wie deutsch. Der Unterschied zu einigen anderen Halbportugiesinnen? Ich sehe nicht portugiesisch aus.
Ich habe mich immer genauso als Portugiesin, wie als Deutsche identifiziert. Beides sind Teile meiner Identität – ich stamme aus einer teil-immigrierten Familie. Diskriminierung erfahre ich ganz anders, als typische öffentliche Diskurse es thematisieren: Statt mir abzusprechen, deutsch zu sein, spricht man mir ab, portugiesisch zu sein.
“Hä, du kannst doch nicht sagen, dass du genauso portugiesisch, wie deutsch bist!” – weshalb nicht?
“Warum bist du bitte nicht für Deutschland in der WM?!” – warum interessiert dich das?
“Du bist hier aufgewachsen, dann bist du doch keine Portugiesin!” – woran machst du das fest?
Portugiesin zu sein, eine zweite Kultur, Mentalität zu haben: Das darf ich hier nicht. Das sieht man mir nicht an, deshalb kann ich es auch nicht sein. Würdest du mir das Portugiesisch-Sein auch absprechen, wenn mein Aussehen weniger “deutsch” wäre? Vermutlich würde man mir dann absprechen, vollständig deutsch zu sein – auch nicht viel besser!
Weshalb kannst du beurteilen, was Teil meiner Identität ist und was nicht?
Identitätsunterdrückung funktioniert in alle Richtungen. Eine Form äußert sich im Rassismus gegen BIPoCs – dazu zähle ich nicht. Wohin gehöre ich dann?
Es gibt viele Personen aus der zweiten oder dritten Generation von (teil-)immigrierten Familien, denen man das nicht ansieht. Ihnen abzusprechen, sich auch mit einer weiteren Kultur zu identifizieren, ist diskriminierend: Identitäten zu unterdrücken ist in alle Richtungen falsch. Es ist außerdem arrogant und überheblich. Ich habe viele Freund:innen, die Sätze, wie die obenstehenden, zu mir sagen, immer wieder. Sie wissen nicht, dass das verletzend und diskriminierend ist. Weil das ein noch sehr offenes und kaum erschlossenes Feld in der Diskriminierungs-Forschung ist.
Bereits als ich noch sehr jung war, haben mich solche Aussagen verletzt. Ich konnte mich dagegen nicht wehren. Habe mich nicht getraut, so etwas wie “Ich bin natürlich für Portugal in der WM! Meine Mama ist für Portugal und es ist schön, mit anderen portugiesischen Freund:innen Fußball zu gucken.”, zu sagen.
Was ich damals nicht wusste war, weshalb mich solche Aussagen verletzen oder was sie bedeuten. Heute weiß ich es: Es ist eine Form von Diskriminierung, die viele weitere Kinder der zweiten oder dritten Generation aus (teil-)immigrierten Familien erfahren. Dagegen anzusteuern ist manchmal gar nicht so einfach. Schon Freud zeigt auf, dass wir unsere Identität einerseits aus dem Teil unseres Selbst bilden, der wir wirklich sind. Aber auch aus dem, was gesellschaftlich akzeptiert wird. Sich solche Strukturen klarzumachen, ist schwierig – sie sind so gut wie unsichtbar.
Du bist nicht alleine
Wenn du, so wie ich, aus einer (teil-)immigrierten Familie stammst, dann solltest du wissen, dass du nicht alleine damit bist. Es gibt viele Menschen, denen es ähnlich geht. Wir haben nur noch nicht so viele Begriffe für diese Formen der Diskriminierung. Die zweit- und dritt- Generation wird gerade erst erwachsen, das Phänomen ist daher extrem neu und unerforscht. Es handelt sich nicht um Rassismus, nicht um Ausländerfeindlichkeit – auch dann, wenn sich Teile überschneiden. Es ist neu, du selbst bist der Knotenpunkt und hast noch wenig Orientierung in diesem wissenschaftlichen Feld – verlasse dich daher auf deine Intuition.
Wenn du das Gefühl hast, jemand urteilt über deine Identität, dann ist es ok, verletzt zu sein. Diese Form eines Urteils ist falsch und diskriminierend. Auch dann, wenn du noch nicht in Worte fassen kannst, weshalb. Oder du noch keinen richtigen Begriff dafür gefunden hast: Weise Personen in deinem Umfeld darauf hin. Sprich aus, wie du dich bei manchen Äußerungen fühlst. Wie du gerne behandelt werden möchtest. Stelle klar, dass es Teile von dir gibt, die du hier, in Deutschland, nicht ganz ausleben kannst. Weil diese Teile mit einem ganz anderen Umfeld in Verbindung stehen. Dich ganz andere Personen umgeben. Versuche dennoch, diese Teile anzunehmen, sie zu spüren und auszuleben – dann kannst du sicher sein, dass sie zu dir gehören. Auch dann, wenn andere Personen meinen, sie dir absprechen zu können.