Ich mache eine Therapie
Manchmal vergesse ich diese feine Tatsache, obwohl ich einmal die Woche zu meiner Therapeutin fahre, und dieser nahe, zwischenmenschliche Kontakt ist etwas Besonderes in Zeiten der Pandemie. Aber vor allem zeigt es mir, wie normal es für mich geworden ist, dass ich mir Hilfe geholt habe. Das Thema Therapie kann Angst machen, Unbehagen schaffen und vor allem ganz viele Fragezeichen entstehen lassen. Wie groß müssen meine Probleme sein, damit sie richtig sind für eine Therapie? Wie krank muss ich sein, damit ich, eine unter vielen, einen Platz bekommen darf? Das sind Fragen, die mich auch jetzt alle noch beschäftigen, auch wenn ich bereits einen Therapieplatz habe und mich schon mitten in meinem Prozess befinde.
Das Thema des Krankseins hat einige Facetten, doch zunächst allgemein:
Psychische Symptome werden noch immer nicht ernst genug genommen
In unserer Gesellschaft gehen wir leider nicht auf die gleiche Weise mit physischen Krankheiten, wie mit psychischen Erkrankungen um. Auch wenn man sich womöglich in seiner gut sortierten Instagram-Bubble befindet, bedeutet das noch lange nicht, dass die Welt da draußen wirklich schon so weit ist. Es ist eine Tatsache, dass zum Beispiel ein Knochenbruch eher Beachtung findet als ein Mensch, der geistig (und sicherlich gleichzeitig auch körperlich) erschöpft ist. Man müsse die Krankheit schon sehen, damit sie ernst genommen wird. Mittlerweile zieht dieses Argument aber nicht mehr für mich. Wenn man genau hinsieht, werden für mich vor allem psychische Probleme sichtbar: Das Verhalten der Menschen im Umgang mit anderen und vor allem das persönliche Verhalten eines jeden Menschen zu sich selbst.
Doch wenn schon Menschen, die eine diagnostizierte Krankheit haben, nicht als krank angesehen werden, wie ist es dann, wenn die eigenen Beschwerden die Kriterien einer Diagnose nicht erfüllen? Bin ich für eine Therapie nicht krank genug, wenn meine depressive Stimmung nur fünf Tage und nicht, wie für eine Depression festgelegt, zwei Wochen anhält? Diese Phasen haben sich bei mir eingeschlichen, sie lähmen mich für ein paar Tage und lassen mich so unzufrieden mit mir werden, dass ich nichts mehr machen will. Das Reden mit anderen Menschen fällt schwer, in meinen Kopf sind lauter negative Gedanken und eine innere Blockade, die sich langsam wieder vor alles schiebt. Diese Phasen sind zu kurz, um den Namen Depression zu tragen und doch ist es wie ein innerer Kampf, der mich dazu zwingt, einen anderen Zugang zu mir selbst zu finden.
Eine Diagnose ist zunächst für die Kostenübernahme einer Krankenkasse essenziell
Nach den fünf Sitzungen im Rahmen des Erstgesprächs muss der Therapeut/die Therapeutin ersichtlich machen, wieso man sich in Behandlung begibt. Das macht soweit Sinn, nur wer krank ist, braucht Behandlung und bekommt somit Therapiestunden. Wahrscheinlich ist die Frage nach dem krank genug sein etwas, das sich unterbewusst entwickelt hat. Und der Gedanke daran, dass es anderen Menschen doch weitaus schlimmer geht, kommt beinahe zugleich auf. Doch reichen nicht auch schon Symptome aus, um zum Arzt zu gehen? Brauche ich denn erst eine wirkliche Depression, um behandelt zu werden?
Ich weiß noch, wie traurig ich war, als mir meine Therapeutin gesagt hat, dass ich trotz meiner Problematiken keine eindeutige Diagnose habe. Ich glaube, mein erster Gedanke war: wenn ich nicht krank bin, also offiziell nichts habe, dann bin ich selbst schuld, dass es mir so geht wie es mir geht. Eine Diagnose, irgendeine, hätte mich entlastet und mich vor allem darin bestärkt, dass ich berechtigterweise auf dem Sessel im Therapiezimmer meiner Therapeutin sitze. Es ist schrecklich, wenn man sich in einer solchen Situation eventuell wünscht, Kriterien einer Krankheit zu erfüllen, die man faktisch nicht hat. Man darf dankbar sein, dass man nicht krank ist. Und trotzdem darf man auch dankbar dafür sein, aufgrund von Symptomen eine Therapiepraxis aufgesucht zu haben. Denn es ist ein Prozess mit Höhen und Tiefen, sich für eine Therapie zu entscheiden. Und so unterschiedlich wie der jeweilige Prozess ist, so sind auch die Problematiken der Menschen. Sobald Belastungen vorliegen, die vielleicht schon jahrelang da sind und somit als normal empfunden wurden, oder plötzlich durch ein Ereignis auftreten, und einen im Leben einschränken und/oder unglücklich machen, ist es berechtigt, den Problemen auf den Grund zu gehen. Jeder Mensch hat das Recht darauf, ein leichtes Leben zu führen.
Quelle zum Thema „Wann zur Therapie?“
(Da ist nur leider direkt in der Überschrift ein Schreibfehler)
https://www.psychotherapie-faq.de/index.php/psychotherapie/allgemeines/wann-ist-eine-psychotherapie-angebracht-oder-noetigt.html#sprung
Autorin: Julia Kantor
Fotografin: Emily Ryl