Wie äußern sich Essstörungen bei Männern? Männlich gelesene Personen erkranken weit häufiger an Psychischen Störungen im Zusammenhang mit dem Essverhalten, als allgemein bekannt. Ähnlich wie bei Frauen, sind auch Essstörungen bei Männern individuell. Da gibt es zum Beispiel die “Massephase”, in der Männer so viel essen und trainieren, wie irgend möglich. Typischerweise kommen Quark, Reiswaffeln und Hühnchen auf den Teller. Auch dann, wenn diese Nahrungsmittel als unappetitlich wahrgenommen werden. Das Ziel? So schnell wie möglich so große Muskeln wie möglich aufzubauen. Das andere Extrem ist ein Krankheitsbild, bei welchem Betroffene kaum oder nur einhergehend mit (meist) langen und intensiven Trainingseinheiten essen. Jede Kalorie wird genaustens überwacht und durch Training kompensiert: Der Adonis-Komplex.
Die Bandbreite unsichtbarer Essstörungen ist groß und kaum erforscht. Davon sind Männer nicht ausgeschlossen. Die Dunkelziffer bei männlich gelesenen Personen ist groß: Leider bleibt ein gestörtes Essverhalten oft unentdeckt oder wird, wie im Fall der unprofessionellen Massephase, sogar normalisiert.
Wann beginnt eine Essstörung? Bei Frauen scheinen die Grenzen zumindest relativ klar. In der männlichen Ära finden sich auch heute noch viele Fragezeichen.
Marie ist 25 Jahre alt. Sie hat einen vier Jahre jüngeren Bruder, der mit etwa 15 Jahren eine Essstörung, den Adonis Komplex, entwickelt. Viele Jahre bleibt seine Störung unentdeckt. Heute ist Marie hier und spricht mit mir über die Erlebnisse ihres Bruders, wie sich die Essstörung geäußert hat und welche emotionalen Lasten damit verbunden sind. Um die Anonymität unserer Interviewpartnerin zu wahren, wurde ihr Name geändert.
Hallo Marie. Als dein Bruder etwa 15-16 Jahre alt war, hast du schon nicht mehr zuhause gewohnt. Ungefähr da vermutest du die Ursprünge seiner Essstörung, warum glaubst du das?
Damals ist unser Großvater an Krebs gestorben. Mein Bruder hat ihn häufig zu OPs begleitet, allgemein haben die Beiden viel Zeit miteinander verbracht. Damals meinte mein Großvater, mein Bruder müsse stark sein und auf die Familie aufpassen. Dazu kommt, dass er meinem Großvater extrem ähnelt. Ich glaube mit 15 Jahren war er einfach nicht dazu in der Lage, seine Erlebnisse richtig zu verarbeiten. Etwa um diese Zeit fing es an: Mein Bruder versuchte, das Schönheitsideal von einem sehr muskulösen und definierten Mann zu erreichen. Sein Ziel hat er sehr hochgesteckt.
Deine Familie immer eher „kräftiger“ gebaut war. Die Worte deiner Mutter, dass ihr alle abnehmen müsstet, haben auch dich geprägt: Du hast Frustessen entwickelt. Dein Bruder war aber nicht „kräftiger“ gebaut?
Nein, mein Bruder war immer normal- und zeitweise untergewichtig. Eigentlich war er immer sehr sportlich und hat sich in seiner Freizeit gerne bewegt, er hat zum Beispiel Fußball gespielt. Das war aber immer im normalen Bereich.
Ich kann mich nicht daran erinnern, dass er je übergewichtig war. Trotzdem hat er angefangen nur noch zu essen, wenn er davor oder danach Sport gemacht hat. Das ging eine ganze Weile so. Uns ist es erst aufgefallen, als er etwa 17 Jahre alt war. Damals ist er offen mit seinen selbst formulierten „Regeln“ umgegangen. Er hat sich Mahlzeiten verboten, da sie ihm zu fettig waren oder, weil er keinen Sport gemacht hat. Als er mit Krafttraining anfangen wollte, wurde dann zusätzlich extrem auf die Proteinzufuhr geachtet. Auch sein Kalorienziel stand immer im Fokus: Nach 8h Schule wurden 3h trainiert, danach wieder fast gar nichts gegessen. Das ist uns dann doch sehr auffällig und besorgniserregend vorgekommen.
Kannst du von dem Schlüsselmoment erzählen, bei dem du bemerkt hast, dass mit deinem Bruder etwas nicht stimmt?
Das war, als er von einer Skifreizeit in der Schule zurückkam. Er hatte dort ein wenig zugenommen, vielleicht 2kg, war aber immer noch sehr dünn. Mit seinen 17 Jahren stand er vor dem Spiegel und meinte „Ich bin ja so fett geworden.“ Ich konnte seine Aussage und die Situation gar nicht einordnen. Es hat mich echt sehr stutzig gemacht. Als meine Mutter und ich darüber gesprochen haben, meinte sie, dass ihr das Verhalten auch auffällig vorkommt.
Deine Mutter hat damals versucht, Wege einzuleiten, um deinem Bruder zu helfen. Was hat sie unternommen?
Sie hat sich Hilfe bei einer Ernährungsberaterin geholt. Nachdem meine Mutter ihr die Situation geschildert hat, wurde dann auch direkt ein Termin gemeinsam mit meinem Bruder vereinbart. In dem Gespräch ging es unter anderem darum, dass mein Bruder essen darf, wann er möchte. Auch unabhängig von seinem Training. Außerdem meinte die Beraterin, dass er essen kann, ohne Angst vor eine Zunahme haben zu müssen.
Sie hat ihm erklärt, dass er eine Krankheit hat und man dieses Krankheitsbild auch den „Adonis Komplex“ nennt. Anscheinend äußert sich das bei vielen Männern: Es wird ein Ideal des perfekten Körpers angestrebt, das auf natürlichem Wege für die meisten gar nicht erreichbar ist. Das Gespräch mit der Ernährungsberaterin hat ihm geholfen und er konnte tatsächlich aufhören, zwanghaft Sport zu treiben, um etwas zu essen. Dann ging es ihm erst einmal besser. Er konnte sein Abitur machen und ist nach Bali geflogen.
Aber damit war die Geschichte noch nicht vorbei, richtig? Warum ist dein Bruder dann noch einmal in eine Essstörung gerutscht?
Er wurde auf dem Weg nach Bali, am Flughafen von Doha, Opfer eines sexuellen Übergriffs. Ein Polizist hat ihn heraus gewunken und auf Drogen kontrolliert. Er war alleine mit dem Beamten, der ihm eine Leibesvisitation unterzogen hat. Der Beamte selbst war dabei vollkommen entblößt. Er hat uns von dem Übergriff erzählt, aber es schien, als würde er gut damit klarkommen. Obwohl das sehr traumatisierend für meinen Bruder gewesen sein muss, ist er ja auch trotzdem nach Bali geflogen. Dort hat es ihm, soweit ich weiß, gut gefallen. Als er ein halbes Jahr später wieder zurückkam, ist die Sache dann über ihn hereingebrochen. Er fiel wieder in seine gestörten Essmuster zurück und hat angefangen, zwanghaft zu trainieren. Bis dahin hat er nie eine Therapie gemacht, sondern nur die Gespräche mit der Ernährungsberaterin gehabt. Generell ging es ihm zu der Zeit einfach psychisch schlecht. Er musste mit den ganzen Umständen kämpfen und hat wieder mit dem Kiffen begonnen.
Bis dahin war er nicht in Therapie. Aber dann hat er eine begonnen?
Genau, er hat sich eine Therapeutin gesucht, die ihm erst mal weiterhelfen sollte. Er konnte mit einer außenstehenden Person über seine Erlebnisse auf Bali sprechen. Auch das zwanghafte Essverhalten hat sich seitdem verbessert. Letzteres, also seine Zwänge, wurden aber einfach nur auf das Kiffen übertragen, wodurch eine leichte bipolare Störung entstand. Für zwei Wochen musste er deshalb in eine Klinik. Das war meiner Meinung nach das Beste, was passieren konnte. Er wurde medikamentös eingestellt und seitdem geht es ihm viel besser. Er macht regelmäßig Sport, aber in einem normalen Pensum und kann auch wieder normal essen. Die Therapie macht er immer noch.
Mit Medikamenten haben viele Patient*innen zu kämpfen. Diese therapeutische Maßnahme hat fälschlicherweise einen schlechten Ruf. Wie ist das denn mit deinem Bruder, nimmt er die Medikamente weiterhin? Helfen sie ihm?
Ich denke, es war auch für ihn ein negativ besetztes Thema, Tabletten wegen seiner psychischen Gesundheit nehmen zu müssen. Deshalb hat er sie kurz abgesetzt. Das war vor ungefähr einem Jahr. Zum Glück fing er dann aber recht bald wieder an, sie zu nehmen. Mit den Medikamenten geht es ihm heute viel besser. Also ja, das war anfangs eine Hürde, aber er sieht jetzt, dass die Medikamente ihm durch diese schwere Zeit helfen können.
Hast du Angst, dass er wieder einen Rückfall kriegen könnte?
Mein Bruder ist jetzt 21 und er ist psychisch sehr labil. Ich denke, wenn er getriggert wird, kann er schon sehr schnell wieder in alte Muster zurückfallen. Aber die Medikamente helfen ihm gut. Auch die Therapie und Gespräche geben ihm Stabilität. Man merkt trotzdem, dass das heutige Bild eines idealen Mannes auch jetzt noch starken Einfluss auf ihn hat. Die jungen Männer machen alle viel Sport und achten auf ihre Ernährung, aber der Grad zur Essstörung ist schmal. Deshalb haben auch wir, als seine Familie, erst zwei Jahre später gemerkt, dass er krank ist. Auch er hat eine ganze Weile gebraucht, um das einzusehen. Im Endeffekt hatten wir trotzdem noch Glück. Ich denke er hat früh genug die Kurve bekommen, um damit klarzukommen.
Abschließend führen Marie und ich das Gespräch noch etwas weiter. Wir sind uns einig: Das Thema Essstörung bei Männern wird zu selten thematisiert. Männer sollen und dürfen nicht das Gefühl haben, dass nur Frauen dieses Thema betrifft. Die Hürde, mit Bezugspersonen zu sprechen oder sich sogar Hilfe zu holen, sollte viel niedriger sein. Mit diesem Satz beendet Marie unser Gespräch:
„Ich hoffe, dass die Geschichte meines Bruders vielleicht den einen oder anderen dazu bewegt, mehr auf seine Mitmenschen zu achten und solche Anzeichen zu deuten, damit man rechtzeitig helfen kann.“