Social Media ist nicht echt. Das höre ich immer wieder, aber empfinde es nicht genau so. Social Media ist manchmal sehr echt, eventuell echter, als wir es wahrhaben wollen. Es werden Abgründe sichtbar, die lange Zeit irgendwo am Meeresgrund versteckt waren. Ich gehe vollkommen mit Sasha Lobo, wenn er betont, dass unsere Welt nicht komplizierter, nur sichtbarer geworden ist. Plötzlich sehen wir all die Verstrickungen: Wir sehen, dass Rassismus mehr ist, als explizite Beleidigungen oder direkte Gewalt und viel eher auch mit implizit angelernten Verhaltensmustern einhergeht, vor deren Aneignung niemand geschützt ist. Wir sehen, dass Menschen mit Behinderung wundervolle Statements abgeben und zeigen wer sie sind. Mein Professor würde sagen, dass wir einfach neue, andere Gatekeeper haben. Die Tore zur Information sind offen und jede:r kann jetzt veröffentlichen, nicht mehr nur Jounralist:innen. Mir hilft das, weil ich Personen sehen kann, die zu lange nur durch eine Reflektion vom gesunden, weißen heterosexuellen cis Mann (& Frau) repräsentiert wurden. In der Öffentlichkeit stehende Menschen mit Behinderung waren dann nicht einfach nur Menschen, sondern hatten eine Erfolgsgeschichte: “Nina hat es trotz Rollstuhl geschafft, sie ist Profischwimmerin!” Das ist schön, aber hat Nina das wirklich trotz Rollstuhl oder nicht eher einfach nur mit Rollstuhl geschafft? Genauso wie ich es eben mit zwei Beinen schaffen würde, oder nicht schaffen würde. Wären Beine eine krasse Mutation, würde es dann heißen: “Magdalena hat es geschafft, sie ist trotz Beine Profischwimmerin geworden!”? Warum ist die Betonung einer Abweichung von „normal“ so wichtig? & Warum kann Nina als Mensch mit Behinderung nicht einfach ohne Erfolgsgeschichte thematisiert und eine ernstzunehmende Stimme, statt einer „Stimme mit Behinderung“, in der Öffentlichkeit sein?
Alles was wir sagen (& sehen) ist Ausdruck unserer Normalität
Aber Normalität ist nur in den aller wenigsten Fällen normal. Wo finden wir denn Marianne, die 40 Stunden die Woche arbeitet, danach ganz entspannt zuhause auf ihre drei Kinder aufpasst, ihr Sozialleben im Griff hat, vor der Arbeit noch schnell die Wäsche macht, Essen vorbereitet und drei Mal die Woche geschwind ins Fitnessstudio hüpft? Marianne oder ein vergleichbarer Mensch existiert nicht, weil wir alle zeitlich begrenzt sind. Dieses ominöse und unerreichbare Normal existiert als Konstrukt trotzdem und wir streben es paradoxerweise, oder eher toxischerweise, sogar an. Wie sehr wir von normal abweichen bestimmt die Erfolgsrate unseres Strebens. Menschen mit Behinderung, Schwarze Menschen, PoC, dicke Menschen, trans Personen und so viele mehr, haben für toxisch normal ganz andere Grundvoraussetzungen. Was, wenn deine Startbedingung das Downsyndrom, eine Lernschwäche, ein non-binäres Geschlecht ist? Du wurdest im Prinzip “anormal” geboren, obwohl das biologisch gar nicht möglich ist. Schon Harari erzählt in “Eine kurze Geschichte der Menschheit”, dass es per so unmöglich ist, unnatürlich, der Natur entgegengerichtet zu handeln oder auf die Welt zu kommen. Er vergleicht das sehr gut mit einer Anekdote über Lichtgeschwindigkeit.
Wir können trans geschlechtlich auf die Welt kommen, also hat die Natur uns diese Möglichkeit geschenkt. Die einzige Instanz, die das Gegenteil behauptet ist die Kultur, zum Beispiel die Kultur der Christlichen Gemeinde – das hat nicht Harari gesagt, aber das sage ich jetzt (und der Papst). Was die Kultur aber nicht verbietet ist, schneller als Lichtgeschwindigkeit zu laufen. Das wäre absurd, weil es ja per se gar nicht möglich ist. Es ist biologisch unmöglich, also ausnahmsweise wirklich anormal. Interessant hierbei: An dem Tag, an dem ein Mensch durch irgendeine krasse Mutation schneller laufen kann als Lichtgeschwindigkeit, ändert sich Anormalität zu Normalität und Unnatürlichkeit zu Natürlichkeit, krass, oder? Wie dem auch sei: Lasst die Menschen leben, sie leben in ihrer natürlichsten Form. Dabei grenze ich mich von der Legitimierung einer Handlung ab. Nicht jede mögliche Handlung ist moralisch gut oder ok, nur weil die Biologie unseres Körpers diese Handlung nicht untersagt. Es ist nie gut, seine Mitmenschen zu mobben oder zu diskriminieren. Unnatürlich ist es nicht, moralisch falsch ist es schon.
Zurück zu Social Media
Hier werden Türen zu Menschen geöffnet, die wir ansonsten vielleicht nur selten oder gar nicht sehen. Irgendwann habe ich angefangen mich zu fragen, was ich als unangenehm und beklemmend, als unschön oder eben “anormal” empfinde und mich daraufhin nach und nach damit konfrontiert. Soziale Medien können ein extrem gutes Werkzeug dafür sein. Ich habe begonnen dicken Frauen auf Instagram zu folgen, die sich für Body-Positivity einsetzen und stelle heute fest, dass sich mein Verständnis von Schönheit wandelt. Ich habe begonnen Schwarzen aktivistischen & feministischen Frauen wie Emilia Roig, Anna Dushime oder Tupoka Ogette zu folgen und stelle fest, dass sich mein Wahrnehmungshorizont mit ihrer Perspektive und Sicht auf die Welt, grundlegend ändert. Ich empfinde andere Dinge als unfair und sehe Ungerechtigkeit, wo sie eigentlich schon immer war. Ich gucke Reels von Menschen mit geistiger Behinderung, verfolge das Leben von psychisch kranken Personen oder sehe, wie wundervoll sich trans Frauen morgens für die Arbeit schminken. Ich sehe das alles und heute löst es immer weniger Beklemmung in mir aus. Mein Verständnis für Gerechtigkeit, Normalität, Schönheit, Klugheit, Weiblichkeit, Männlichkeit – Mein Verständnis für die Welt, hat sich grundlegend verändert & entwickelt sich immer noch weiter. Ich habe gelernt, dass ich nicht beurteilen kann, ob es schlecht ist, dicke Menschen zu “normalisieren”, solange ich mich nicht wirklich mit dem Thema und vor allem mit den Menschen, ihrem Lebensweg, ihren Ängsten und Sorgen, auseinandergesetzt habe. Ich habe gelernt, dass ich nicht die Person bin, die bestimmt was rassistisch ist. Stattdessen habe ich gelernt, was tatsächlich diskriminierend ist und kritisch hinterfragt werden sollte. Darunter auch & vor allem meine eigenen Sichtweisen, Denkmuster oder intuitiven Handlungen. Niemand ist unfehlbar, ganz besonders nicht ich. Jede:r kann etwas dafür tun, dass die Welt ein Stück besser wird. Am meisten tun wir bereits damit, diskriminierten und marginalisierten Menschen(-gruppen) ein offenes Ohr zu schenken. & vielleicht, ganz vielleicht ändert sich dadurch nicht nur unser Blick für das Gegenüber, sondern auch das Feingefühl für unser Selbst.
Die Norm ist vor allem deshalb ätzend, weil sie dir Glück verspricht, dir aber eigentlich Leistung, Anpassung und Systemstabilisierung entlocken will. Du denkst, du tust was für deine Entfaltung, aber in Wirklichkeit versuchtst du ein leistungsfähiges Individuum zu sein, das möglichst gut in seiner Umwelt funktioniert, egal wie ungerecht und falsch sie ist. Denn die Strafe ist eindeutig: Wenn du nicht gut funktionierst und eine Abweichung von normal bist, dann sind viele Dinge schwerer für dich und zudem wird dir andauernd das Gefühl vermittelt, du seist irgendwie falsch. Definitionen von Normalität sind immer auch ein Herrschaftsmittel.
Dabei habe ich das Gefühl, dass die heutige Definition von normal ein Abstrafung von Menschlichkeit (bzw. Natürlichkeit, wie du es formuliert hast) ist. Die Priorität liegt überhaupt nicht darauf, seiner Existenz einen inneren Wert zu geben, die Bedeutung des Menschseins zu entdecken, sich an seiner Lebendigkeit zu freuen und einfach nur da zu sein. Immer geht es im Produktivität, mehr und mehr und mehr. Die Ideologie, die unser Wirtschaftsystem zu einem Planeten fressenden Monster gemacht hat, ist längst die Ideologie, die auch Macht über unser Selbstwertgefühl hat. „Du bist nicht gut genug.“ ist das Mantra. Und der eine denkt eben, er sei nicht gut genug, weil er im Rollstuhl sitzt und die andere denkt, sie sei nicht gut genug, weil sie eine Depression hat und wieder jemand denkt, er sei nicht gut genug, weil er nur 12€ die Stunde verdient und vielleicht denkt auch jemand, sie sei nicht gut genug, weil sie bisher nur 10 Millionen gemacht hat.
Warum sonst sollte im Rollstuhl sitzen oder eine Depression haben ein Problem sein? Das werden erst echt ätzende Probleme im Verhältnis zu dieser einen unmenschlichen Normalität.
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