Wo fangen Übergriffe an?

April, 9.27 Uhr

Ich steige in die Tram. Eben noch ist mir ein Mann aufgefallen, mit einer kleinen Tragetasche in der Hand. Darin eine Flasche Wodka. Ich hatte ihn direkt einkategorisiert: Trinker, asozial, besser fernhalten. An die Haltestelle tritt ein Vater mit seinem kleinen Kind. Von Weitem sehe ich, wie sie sich mit dem Mann unterhalten. Mit Kopfhörern im Ohr kann ich nicht hören was genau sie sagen, aber es scheint, als würden sie sich kennen. „Sowas,“ denke ich mir, „den habe ich falsch eingeschätzt.“

Juli 17.39 Uhr

Ich bin im Fitnessstudio. Wirklich wohl habe ich mich hier noch nie gefühlt. Als Frau, die Kraftsport treibt, bin ich meistens eine von sehr wenigen Frauen und umso mehr Männern. Ich registriere die neugierigen Blicke, wenn ich nach und nach meine Gewichte zusammensuche und auf die Langhantel schiebe. Unangenehm, aber aushaltbar. Ich mache mich bereit für die Übung. Neben mir bemerke ich einen jungen Mann, der sich eine Matte holt und etwa 1-2 Meter links von mir Platz nimmt. Seine Matte ist so ausgerichtet, dass er direkt auf mich blickt, wenn er geradeaus schaut. Ich denke mir weiter nichts.

April, 9.28 Uhr

Die Tram fährt mit mir, besagtem Mann und Vater mit Kind los. Vater und Kind suchen sich einen Platz, der Mann sitzt rechts von mir auf einem Sitzplatz. Ich lehne, wie jeden Morgen, an den Polstern der Stehplätze. Der Mann, etwa 60, steht mitsamt seiner Wodka-Flasche auf und stellt sich direkt vor mich. Er sagt etwas, das ich nicht verstehe. Ich nehme die Kopfhörer aus meinen Ohren und frage noch einmal nach.

Juli, 17.50 Uhr

Ich beginne meine Übungen. Jedes Mal, wenn ich nach links Blicke trifft sich mein Blick mit dem des jungen Mannes. Ich versuche nicht mehr hinzugucken, um keine falschen Signale zu senden. Im Blickwinkel sehe ich, wie er sich auf seinen Bauch legt und geradeaus guckt, also direkt in meine Richtung. „Quatsch, ich reagiere über,“ denke ich und da ich mich zunehmend beobachtet und unbehaglich fühle, überprüfe ich mit einem Blick, ob er noch immer auf mich schaut. Das tut er.

April, 9.30 Uhr

Ich kann die Frage des Mannes, ob und wann die Tram am Hauptbahnhof sein wird, schnell beantworten. Erleichtert hoffe ich, dass er sich nun wieder auf seinen Platz setzt. Das macht er nicht. Stattdessen fragt er jetzt ein paar, etwas zu persönliche, Fragen: Woher kommst Du? Wo wohnst Du? Wie alt bist du? Nein echt? Meine Tochter ist 14 Jahre. Was machst du Beruflich? Beim Reden kommt er mir langsam immer näher. Inzwischen ist er mir so, dass ich seine Alkoholfahne riechen kann. Mir wird schlecht.

Juli 17.57 Uhr

Die Blicke werden zunehmend unangenehm. Ich merke, wie verunsichert, aber auch wie wütend ich darüber bin, dass ich nicht einfach in Ruhe trainieren kann. In diesem Moment erstelle ich eine Story auf Stimmfang, um später darüber zu sprechen, wie es ist, bei jedem Schritt beobachtet zu werden. Unsere Blicke treffen sich erneut. Dieses Mal halte ich für einen Moment stand und versuche ihm das Signal „Hör auf mich anzugucken“ zu geben, wende meinen Kopf sichtlich genervt ab, runzle meine Stirn und hoffe, dass das jetzt aufhört. Er hört nicht auf. Wütend räume ich die Gewichte auf und wechsle den Ort. Ihn zu bitten, mich nicht mehr anzugucken traue ich mich nicht. Aus gutem Grund?

April 9.31 Uhr

Es sind nur wenige Minuten vergangen, links und rechts von mir stehen Personen. Ich kann nicht ausweichen und der Mann kommt mir immer näher. Endlich bekomme ich Blickkontakt mit einem jungen Mann, der rechts von uns beiden sitzt. Hilflos schaue ich in seine Augen, er regt sich nicht. Die Tram näher sich der S Landsberger-Haltestelle – ich sage, dass ich raus muss und beginne zu laufen. Er läuft mit. „Du bist also Journalistin? Warte hier meine Nummer 0176…,“ er diktiert mir seine Nummer, während er mit mir in Richtung Tür läuft. „Noch mal 0176…“ Ok, bis dann. Ich steige aus und laufe direkt weiter. Das hier ist weder in meine Richtung noch meine Haltestelle. Mein Herz pulsiert, ist er mir weiter gefolgt?

Juli, 18.05 Uhr

Ich bin an das andere Ende vom Raum gegangen, um meine nächsten beiden Übungen zu machen. Auf dem Weg habe ich mein Oberteil aus der Hose geklemmt, damit es möglichst viel von meinem Körper bedeckt. Ich sehe ihn nicht mehr, er ist weg, denke ich. Dann setzt sich jemand direkt neben mich auf ein Trainingsgerät und guckt mich an. Jetzt ist er wieder da, aber er benutzt das Gerät nicht. Seine Übung macht er an der Klimmzugstange, die sich viel weiter weg befindet. Jedes Mal, wenn ich meine Übung beginne, sitzt er neben mir und betrachtet mich. Ich bekomme Angst, unterbreche die Übung und gehe wo anders hin, um weiter zu trainieren. Dieses Mal wartet er keine fünf Minuten, sondern folgt mir direkt, setzt sich und starrt.

April 9.31 Uhr

Als die Tram vorbeigefahren ist und die Menschenmenge sich lichtet, sehe ich, dass er nicht mehr da ist. Ich beginne zu weinen. Mich überkommt, wie machtlos ich mich gefühlt habe. Wie unfähig ich war, mich zu wehren. Noch immer fühle ich mich unsicher, bin aufgewühlt und weiß nicht, was ich tun soll. „Habe ich überreagiert? Ist doch nichts passiert…“ sind die ersten Gedanken, die ich fassen kann.

Juli, 18.05 Uhr

Ich laufe ohne zu zögern zur Frauenumkleide. Schon auf dem Weg füllen sich Tränen in meinen Augen – läuft er mir nach? Ich habe Angst, mich umzudrehen. In der Umkleide ist niemand, auf den Toiletten auch nicht. Ich schließe mich in einer Kabine ein und weine so leise es geht. Plötzlich höre ich jemanden die Toiletten betreten, mein Atem stockt. Ist er das? Zittrig lausche ich den Geräuschen und nehme mein Handy in die Hand, um meinen Freund anzurufen. Kein Netz. Wasser plätschert, dann ist es ruhig. Keine Tür, die wieder zufällt. Die Stille ist bedrückend. Dann höre ich, wie die Person den Raum verlässt. Eine Tür fällt zu, ich bin fast erleichtert. Wenn er das war, wartet er dann vor den Toiletten auf mich? Hat er nur so getan, als würde er herausgehen? Ich lausche an der Tür meiner Kabine, aber höre nichts.

Bebend schließe ich meine Kabine auf, laufe durch die Toiletten und betrete die Umkleide. Mein Blick geht nach links. Mein Blick geht nach rechts. Niemand ist hier. Auf meinem Handy sind zwei Balken zu sehen, endlich. Bei meinem Freund klingelt es. Er nimmt nicht ab. Jemand öffnet langsam die Tür auf, Panik. Eine blonde Frau betritt die Umkleide, Erleichterung. Meine Augen füllen sich abermals mit Tränen. Du kannst weinen, wenn du hier weg bist, denke ich. Ich rufe noch einmal meinen Freund an, endlich nimmt er ab. Ich frage ihn, ob er dranbleiben kann. Schnell packe ich meine Tasche und verlasse die Umkleide, dann das Fitnessstudio. Ich schließe mein Fahrrad auf und fahre los. Auf dem Weg kann ich meine Tränen nicht halten. Ist mir jemand gefolgt? Heute Nacht werde ich unsere Wohnungstür doppelt verriegeln.

Es ist ja nichts passiert, denke ich. „Bist du jetzt in deiner Wohnung?“ Ja. „Gut, du bist jetzt in Sicherheit.“ mein Freund hätte nichts besseres sagen können. Es ist ja nichts passiert. Dieser Satz ist eine Lüge. Du bist jetzt in Sicherheit, das ist die Wahrheit. Ich frage meinen Freund, weshalb ausgerechnet mir solche Dinge immer passieren müssen. Aber auch ein ausgerechnet mir ist eine Lüge.

In diesen Situationen ist unglaublich viel passiert. Diese Situationen passieren unglaublich vielen.

Was ist passiert?

Ich wurde beobachtet. Ich wurde verfolgt. Man hat meinen persönlichen Safe-Space betreten, ist mir zu nahegekommen ohne mich nach Erlaubnis zu fragen. Niemand hat über Machtgefälle nachgedacht. Ich wurde zum Weinen gebracht. Niemand in meinem Umfeld war sensibel für diese Situationen, um mir zu helfen. Ich hätte mich in keiner von beiden Situationen wehren können, wäre noch schlimmeres passiert. Mir wurde die Kontrolle über die Situationen genommen. Zwei für ihre Privilegien blinde Männer, die wahrscheinlich nicht einmal bemerkt haben, was für eine große Angst sie ausgelöst haben. Zwei Männer, die meine Signale nicht sehen wollten. Ein Mann, der persönliche Informationen erfragt hat. Ein Mann, der das Nein einer Frau als verstecktes Ja gedeutet hat. Ein Nein ist ein Nein. Kein nein, ist kein ja.

Ausgerechnet mir, es ist ausgerechnet mir passiert, weil es ständig passiert. Es kommt immer wieder vor, nicht weil ich der Auslöser bin, sondern weil dieses Verhalten in unserer Gesellschaft reproduziert und normalisiert wird. Es kommt immer wieder vor. Aber zum Glück ist ja nichts passiert.

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