Ein Essay über das Lesen und das Leben

Das Lesen beginnt mit dem Hören, also bereits dann, wenn wir noch nicht selbstständig dazu in der Lage sind, Buchstaben zu decodieren. Der Mensch sollte seinen Kindern vorlesen, damit sie später einmal dem Text beim eigenen Lesen einen Sinn entnehmen können. Auch die Motivation, ihn zu Ende zu lesen und die Fähigkeit, ihn auf sich selbst und auf die Welt beziehen zu können, wird gestärkt. Für diese Leseentwicklung sollte der Zugang zu den Büchern in einem liebevollen, sicheren Umgang geschehen; nur dann können Bücher (auch später im Erwachsenenalter) Sicherheit vermitteln. Und dem Menschen einen Halt geben in einer Welt, die global und gesellschaftlich immer unsicherer und unberechenbarer wird. Das Lesen bietet den Zugang zu Gedankengängen und/oder Geschichten von anderen Menschen. Es können sich Lebenserfahrungen von anderen geliehen werden; oder man kann eine Immersion in andere (fiktionale) Welten erleben. Oder ganz banal: Entschleunigung erleben. Manchmal kann das Lesen dabei eine Flucht aus dem eigenen Leben sein, doch ich glaube, es kommt darauf an, wie man von dieser Flucht zurückkehrt.

Durch geschriebene Texte wird uns ein Zugang zu uns Selbst angeboten. Wir können uns in den Erzählungen wiederfinden, Begebenheiten durchspielen ähnlich wie in einem Traum, Heilung erfahren durch Erlebnisse von anderen oder letztendlich Heilung durch den Prozess in uns selbst erleben. Das Lesen kann uns die Augen öffnen für unser eigenes Leben und gleichzeitig für das Leben der Mitmenschen; sowie unseren Blick auf die Welt verändern und Empathie entwickeln lassen. Dabei werden manche Bücher zu wirklichen Lebensbegleitern, die überallhin mitgenommen werden. Der Text wird angestrichen, Seitenecken zu Eselohren geknickt, wiedergelesen, vielleicht auch mit anderen diskutiert; und somit enthält ein Text in Form eines Buches am Ende auch Erinnerungen aus dem eigenen Leben.

Das Lesen besteht aus dem Was und Wie. Ist es dabei relevant eine Gewichtung oder Reihenfolge festzulegen? Kommt es zunächst darauf an, welches Buch ich mir aussuche oder darauf an, auf welche Art ich es lese? Dem Lesen und dem Buch wird als eine alte Kulturtechnik, die ursprünglich eng mit den Religionen verknüpft ist, eine positive Bedeutung zugeschrieben. Was dabei aber nicht übersehen werden darf: Lesen bedeutet nicht sofort ein gutes Lesen und erst recht, macht es einen Menschen nicht automatisch klüger oder gebildeter. Bei diesen Gedanken beziehe ich mich auf Menschen, die rassistische, sexistische Meinungen vertreten und/oder sich rechts positionieren, denn unter ihnen gibt es auch Vielleser*innen. Es gibt zudem eine eigene Verlagslandschaft, die rechts ist. Diese Beobachtungen, die mir erst durch den Klimaforscher Mojib Latif und den Soziologen Oliver Nachtwey bewusst wurden, lassen sich aktuell auch auf die „Querdenkerbewegung“ beziehen. Es werden nämlich nicht nur oberflächlich und ungefiltert Texte aus dem Internet bezogen, sondern auch Bücher gelesen, die faktisch falsch sind und die verunsicherten Menschen in ihren Bedenken bestärken können. Das Lesen kann eben auch eine Gefahr darstellen, den Menschen sehr beeinflussen oder sogar manipulieren. Mit einer vernunftbasierten, reflektierten und kritischen Leseweise könnten womöglich alle Bücher eine gewisse Bereicherung liefern.

Um Erkenntnisse jedoch auf das eigene Leben anzuwenden, muss nach dem Soziologen Hartmut Rosa zunächst eine Beziehung zu dem eigenen Weltverständnis aufgebaut werden. Der Mensch braucht nicht nur einen moralischen Kompass, sondern auch einen Zugang zu ihm. Ein Mensch könnte noch so gebildet und vernünftig sein, wenn er sein Wissen aber nicht auf sich und sein Leben anwenden kann, ist es fraglich, inwiefern es von Nutzen ist. Warum handelt der Mensch oft nicht nach dem Wissen, das er hat? Rosa nennt bei dieser Frage direkt die Klimakrise und die Zerstörung unseres Planeten. Mittlerweile lassen sich auch die aktuellen Verhaltensweisen der Menschen darauf beziehen: wir befinden uns in einer globalen Pandemie, die ein Teil der Bevölkerung noch immer leugnet, nicht ernst genug nimmt oder sich von ihr nicht beeinflussen bzw. beschränken lassen möchte. Und diese Geschehnisse lassen an der Menschheit zweifeln. Mit Rosas Auffassungen (aus seiner „Resonanztheorie“) eines stummen Selbst, das eine ebenso stumme Beziehung zur Welt führt, lässt es sich für mich besser ertragen, dass Menschen noch immer nicht nach dem Wohl der anderen handeln. Um im Wohle anderer zu handeln, ist nach Rosa zunächst eine intakte Beziehung zum eigenen Selbst notwendig. Durch diese intakte Verbindung zu einem selbst, lassen sich Bücher tatsächlich als Erweiterung und Vertiefung des Lebens verstehen. Sobald diese Verbindung resonant ist, muss die eigene Beziehung zur Welt betrachtet werden. Erst dann ist eine wirkliche Veränderung im Verhalten zu anderen Menschen und gegenüber der Welt möglich. 

Es fängt immer mit einem selbst an. Man selbst muss offen für die Veränderung sein, die durch Texte ausgelöst werden kann. Nicht nur Texte in Buchform bieten unfassbare Möglichkeiten der Reflexion, Veränderung und Immersion. Selbstverständlich auch Artikel, die wir digital bzw. online lesen. Doch erst eine resonante Leseweise lässt auch erkennen, was der:die Autor:in beschreibt und zum Ausdruck bringt. Das Phänomen der Relektüre stellt dabei wohl den natürlichsten Leseprozess dar: Der Mensch verändert sich in seinem Leben, lässt sich durch Erfahrungen formen und entwickelt sich weiter. Es wäre erschreckend, wenn er nicht bei jedem Wiederlesen stückweit einen anderen Text vor sich hätte. Das würde bedeuteten, dass sich der Mensch nicht verändere und immer gleich bliebe.

Dieser Text ist ein Teil des Fazits meiner Bachelorarbeit zum Thema „Warum lesen? Eine kritische Analyse neuerer Ego-Dokumente“. Zu den Büchern: Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe. Hrsg. von Katharina Raabe und Frank Wegner. Berlin: Suhrkamp 2020. Und: Welt, bleib wach. Das große Buch vom Lesen – eine Anstiftung. Hrsg. von Michael Busch. Freiburg im Breisgau: Herder Verlag 2019.

Für Stimmfang habe ich ihn minimal abgeändert. Ich habe diese Arbeit während der Pandemie, im WiSe 20/21, geschrieben. Und das, was ich versucht habe zu beschreiben, ist eineinhalb Jahre eigentlich noch immer aktuell. Es wird immer aktueller und die Herausforderungen unserer Zeit werden mit jedem Ereignis klarer und heben sich deutlicher ab. Es war seltsam und schön zugleich, dass ich sagen kann, dass mir mein Bachelorthema einen Halt gegeben hat. Ich glaube, dass mich die Arbeit zusätzlich politisiert hat. Es war eine aufwühlende Zeit. Aber in so einer Zeit leben wir noch immer und sich zu informieren und aktiv zu werden (wie auch immer das für jede:n Einzelne:n aussehen mag) hilft wirklich ungemein. Das haben schon viele Menschen vor mir gesagt, doch jetzt gibt es diese Worte auch von mir schwarz auf weiß zu lesen. Wir können etwas verändern.

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