Gefühlsstarke Kinder – wenn jeder Tag eine Herausforderung ist

Mit meinem zweiten Baby ist alles so einfach. Im Vergleich zu unserem ersten Kind. Weil es auch mal ein paar Minuten ohne mich auskommt. Weil ich es auf den Boden legen kann und es einfach so anfängt zu krabbeln. Zu entdecken. Bis der Bindungstank leer ist. Dann möchte es ganz schnell wieder zu mir, meinem Mann. Sich einkuscheln. Liebe auftanken. Um wieder bereit zu sein, für die nächste Entdeckungstour. Ein bindungsstarkes Baby, wenn man nach den Bezeichnungen von Nora Imlau geht.

Ca 40% aller Babys sind bindungsstarke Kinder. Sie sind relativ Reizempfindlich. Das bedeutet, dass für sie, zum Beispiel in einer vollen Fußgängerzone, der Lärm, die vielen Menschen, die ganzen Eindrücke, irgendwann zu viel werden. Sie eine Pause brauchen, um das Gesehene zu verarbeiten. Dann kommen wir ins Spiel, die Bezugspersonen. Wir müssen sie Co Regulieren. Bindungsstarke Babys sind zufriedene Babys – solange sie viel Körperkontakt bekommen. Unser Baby hat die ersten Wochen zum Beispiel nur auf mir und meinem Mann geschlafen. In der Trage fühlt sie sich am wohlsten. Kinderwagen, das klappt erst, seitdem sie älter ist, sitzen kann. Je älter bindungsstarke Babys werden, desto mehr fangen sie an, zwischen Bindung und Exploration zu wechseln. Bei einem vollen Bindungstank trauen sie sich in die Welt hinaus. Aber die Sicherheit bekommen sie nur bei den Bezugspersonen, brauchen diese weiterhin intensiv in besonders verletzlichen Situationen, wie den Schlaf. 

Ganz anders sind da die 40% Regulationsstarke Kinder. Sie reagieren nicht besonders empfindlich auf Reize. Um sich zu regulieren, lernen sie schnell eigene Strategien. Sie fühlen sich auch im Kinderwagen wohl und lassen sich im Schlaf leicht ablegen. Um sich zu regulieren, lutschen sie zum Beispiel am Daumen. Ihr Bindungstank ist nicht so schnell leer – diese Kinder schlafen zB auch früh durch und in ihrem eigenen Bett. Anfängerbabys eben.

Und dann gibt es noch die letzten 20% – die gefühlsstarken Kinder. Oder auch high reactives. Diese Kinder sind extrem Reizoffen. Sie sind schnell überreizt, da sie alle Reize ungefiltert wahrnehmen. Sie brauchen die Sicherheit ihrer Bezugspersonen, um sich zu regulieren. Bei Babys spricht man von sogenannten „High Need Babys“ – Babys, die quasi pausenlos Körperkontakt brauchen. Viel Schreien. Sich immer bei ihren Bezugspersonen rückversichern. 

Später, wenn diese Kinder älter werden, spricht man auch von gefühlsstarken Kindern. Sie sind nicht nur sehr empfänglich für Reize, sie nehmen Reize auch anderes wahr. Das führt dazu, dass sie beispielsweise das Gefühl von bestimmter Kleidung auf ihrer Haut nicht ertragen können. Oder sich vor bestimmten Lebensmitteln extrem ekeln. Nora Imlau, die den Begriff gefühlsstarke Kinder maßgeblich geprägt hat, zählt in ihrem Buch „Du bist anders, du bist gut“ acht typische Eigenschaften gefühlsstarker Kinder auf:

  1. Sie erleben Gefühle unglaublich intensiv und tragen diese Emotionen impulsiv nach außen.
  2. Sie sind extrem willensstark und hartnäckig – haben sie sich erst mal etwas in den Kopf gesetzt, sind sie kaum davon abzubringen.
  3. Sie sind überdurchschnittlich sensibel und haben ganz feine Antennen für die Gefühle ihres Gegenübers.
  4. Sie sind unglaublich empfänglich für sämtliche Sinnesreize und nehmen diese besonders intensiv wahr, was schnell zu Reizüberflutung führt.
  5. Sie haben ein Thema mit Routinen: Einerseits brauchen sie klare, berechenbare Abläufe, andererseits fühlen sie sich von festen Strukturen schnell eingeengt.
  6. Sie verfügen über scheinbar niemals endende Energiereserven, die sich oft in einem unbändigem Bewegungsdrang, sowie einem unterdurchschnittlichen Schlafbedarf äußern.
  7. Veränderungen und Übergänge fallen ihnen schwer – ob kleine Wechsel wie der vom Kinderzimmer ins Bad oder größere, wie Umzüge und Reisen.
  8. Sie sind oft sehr nachdenklich und grüblerisch und haben ein großes Gerechtigkeitsempfinden, was oft dazu führt, dass sie am Leid der Welt regelrecht verzweifeln und dadurch ernster und pessimistischer wirken, als Gleichaltrige. 

Als ich diesen Katalog zum ersten Mal gelesen habe, habe ich mich sofort wiedererkannt. In jedem einzelnen dieser Punkte. Meine komplette Kindheit, Jugend, Erwachsenenzeit Revue passieren lassen. Es war wie ein Puzzle, dass sich langsam immer mehr zusammensetzt. Wenn auch noch nicht komplett. Aber mein Sohn, der zu diesem Zeitpunkt ca 1,5 Jahre alt war? Nein, er kann nicht gefühlsstark sein. Ich wurde eines besseren belehrt. Je älter mein Kind wurde, desto deutlicher wurde seine Gefühlsstärke. Seit ein paar Monaten kann man es nicht mehr übersehen. Jeder Tag ist eine neue Herausforderung. Und so, wie ich immer mehr anfange, meinen Sohn zu verstehen, verstehe ich auch immer mehr mich selbst. Er ist mein Spiegel. 

Gefühlsstärke ist nämlich kein gesetzter Begriff. Es ist ein Begriff, der eine Andersartigkeit beschreiben soll. Eine Art und Weise, wie das Gehirn von bestimmten (relativ vielen) Menschen funktioniert. Und Gefühlsstärke kann ein Schlüssel sein. Ein Schlüssel zu einer Diagnose. Einer Diagnose auf dem Spektrum. ADHS und/ oder Autismus. Hochsensibilität. Oder das alles in Kombination. Neurodiversität.

Gefühlsstärke – das muss keine Diagnose bedeuten. Aber wenn wir als Eltern ein gefühlsstarkes Kind zu Hause haben, sollten wir diese Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen. Es ist niemandes „Schuld“, dass das Kind reizoffener, sensibler, regulationsbedürftiger ist. Niemandes Schuld, dass es dem Kind schwerer fällt, sich an gesellschaftlich etablierte Abläufe zu halten. Oder dem Erwachsenen. Es hat etwas mit der Art und Weise zu tun, wie das Gehirn arbeitet.

Ich empfinde das als extrem bereichernd. Nicht zuletzt, weil meine Mutter mir immer das Gefühl gegeben hat: „Mit dir ist alles richtig. Du bist gut so, wie du bist.“. Denn das bin ich. Und das ist auch mein Sohn. Und das ist das Wichtigste. Ob Diagnose oder nicht. Es ist unsere Aufgabe als Eltern, unseren Kindern immer das Gefühl zu geben: „Du musst dich nicht verbiegen. Du darfst sein, wie du bist. Wir lieben dich, so wie du bist. Ohne Bedingungen. Ohne Wenn und Aber.“.

Unsere gefühlsstarken Kinder sind herausfordernd. Ich weiß es, ich habe selbst eins. Gleichzeitig bin ich selbst eins. Ich weiß, wie es sich anfühlt, von der Welt überrollt zu werden. Von Gefühlen ertränkt. Ich weiß, wie hilflos man sich fühlt. Wie verzweifelt. Wie allein. Dass man einfach nicht mehr rauskommt, aus dem Sturm. Nicht weiß, wie. Und das, obwohl meine Eltern intuitiv so vieles richtig gemacht haben. 

Dein Kind ist vielleicht gefühlsstark. Und du bist vielleicht immer wieder am Rande der Verzweiflung. Aber wo viel Wut, viel Verzweiflung ist, ist auch viel Glückseligkeit. Viel Liebe. Viel Dankbarkeit. Dafür, dass du dein Kind an die Hand nimmst. Es durch die große Welt begleitest. Ihm hilfst, sich selbst kennenzulernen. Und dabei, zu lernen, dass auch riesengroße Gefühlsstürme aufhören, kleiner werden, verschwinden. 

Bleib bei dir und deinem Kind. Es ist egal, was andere Menschen denken. Es kommt nur auf eure Beziehung an. Denn diese bedingungslose Liebe, die wir unseren Kindern entgegenbringen, werden sie wie einen Talisman in ihrem Herzen tragen. Einen Talisman, der sie vor allen anderen Dingen beschützt. Ihnen Halt gibt und Sicherheit, wenn sie mal wieder das Gefühl haben, zu ertrinken.

Ich weiß das – in meinem Herzen ist auch einer. 

Quellen:
Mein Familienkompass – Nora Imlau
Du bist anders, du bist gut – Nora Imlau

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