TW: Angststörung und toxische Beziehungen
Ich erinnere mich an eines der ersten Gespräche, das ich mit meinem jetzigen Freund führte. Es war zwischen Winter und Frühling, was bedeutet, dass Vögel zwitscherten und Sonnenstrahlen unsere Gesichter wärmten, während unsere Atem wie kleine Kamine weiße Rauchwolken in die Luft warfen. Er muss etwas gesagt haben wie “Ich rege mich einfach nicht über unwichtige Dinge auf,” und ich muss zustimmend genickt und ergänzt haben: “Ja, genau. Ich verstehe einfach nicht, dass Menschen sich über Kleinigkeiten aufregen. Ganz allgemein werde ich nur sehr selten wütend.” Er bestätigte und ergänzte und ich erwiderte und so weiter. So toll, so bilderbuchmäßig. Wenn wir heute an das Gespräch denken, kommen uns die letzten Jahre lächerlich ironisch vor.
In der Zwischenzeit sollte ich auf die harte Tour lernen, dass “Ich werde eben einfach nicht so schnell wütend” so viel bedeutete wie “Ich habe mein Leben lang verinnerlicht, dass es nicht auf meine, sondern auf die Grenzen meines Umfelds ankommt”. Ich bin in das reingerutscht, was Menschen “Alte Beziehungstraumata in neuen Beziehungen lösen” nennen und was, welche Überraschung, wie ein Schuss ins eigene Bein war. Diese seltsame Beziehungskonstellation spiegelte im Außen das, was im Inneren verinnerlicht war: Da war kein Raum für mich. Kein Raum für meine Möbel, meine Privatsphäre, meine Dekorationen – Meine Meinungen, meine Gefühle, meine Bedürfnisse. Dafür war da ganz viel Platz für all das einer anderen Person, die, um das richtigkeitshalber kurz klarzustellen, nicht mein Freund war. Was übrig blieb war beißende Angst in Form von Verfolgungswahn, Panikattacken, Angst mit und ohne spezifische Auslöser. Eine Therapeutin würde das später eine Angststörung nennen. Doch erst einmal löste ich mich aus alldem. Ich brach, unter unglaublicher Angst, Kontakt ab. (Ich sage das in so einem kleinen Satz, aber diese Angst und dieses Handeln war der Schlüssel für alles, was danach kam). Ich zog in eine neue Stadt, ich hatte einen neuen Job, ein neues Umfeld, neue Kolleg:innen, neue Mitbewohner:innen. Alles davon tat mir gut und langsam regte sich etwas in mir, langsam schlich sich die Angst davon und spürbar wurde ein ebenso intensives Gefühl.
“Und schon ist der Ton wieder scharf.” Das würde besagte Therapeutin mir später mitteilen, als ich von einer emotional übergriffigen Situation erzählte. Und schon ist der Ton wieder scharf. Ich dachte noch länger über den Satz nach und irgendwann begriff ich endlich. Das, was ich da fühlte, das war keine Angst mehr, sondern Wut. Die ganze Zeit über war ich, während ich ganz eindeutig Angst hatte, wütend gewesen. Ich hatte so eine große Angst davor, für mich und meine eigenen Grenzen einzustehen, dass ich gar nicht merkte, wie meine Wut mit jeder Grenzüberschreitung größer wurde. Genau hier möchte ich ansetzen.
Manchmal haben wir Angst. Sie kann uns beschützen, aber auch ausbremsen. Sich seiner Angst bewusst zu werden bedeutet auch zu hinterfragen, ob das, was wir da fühlen, überhaupt gefühlt werden muss. Oft tragen wir Angst in uns, die soziale Ursprünge hat: Wir wollen nicht verlassen werden, wir wollen nicht schutzlos sein, wir wollen nicht, dass sich Situationen wiederholen, die Spuren in uns hinterlassen haben. Wir glauben wir müssen uns verbiegen, um sicher zu sein und geliebt zu werden. Das Problem ist, dass wir Gewohnheit mit Sicherheit verwechseln, wenn wir denken, wir müssten unsere Grenzen weiten und so automatisch unsere Bedürfnisse und Werte missachten. Unser inneres Kind übernimmt die Führung und wir vergessen, dass das erwachsene Ich, das wir heute sind, auch die Person ist, die wir als Kind gebraucht hätten. Mit dem Durchbrechen unserer Angst kann das erwachsene Ich unser gebrochenes inneres Kind in den Arm nehmen, es Angst haben lassen und beschützen: “Ich bin für dich da.” Wenn wir aus Angst unsere Grenzen missachten kommt Wut ins Spiel, denn die Quelle der Wut sind unsere Werte, und zwar dann, wenn sie verletzt werden.
Wann werden wir wütend? Wir werden wütend, wenn Menschen uns übergehen, vielleicht weil wir selbst versuchen, Menschen in unserem Umfeld zu achten. Achtsamkeit. Wir werden wütend, wenn Menschen unsere Zukunft in den Sand setzen und in ihrer Komfortzone bleiben, während wir so oft aus ihr ausbrechen. Nachhaltigkeit. Wir werden wütend, wenn unsere Eltern uns sagen, was wir tun und lassen sollen. Freiheit. Wir werden wütend, wenn Menschen sich über die falsch einsortierte Spülmaschine aufregen, weil wir das selbst einfach hinnehmen. Harmonie. Wir werden wütend und wenn wir der Wut nachgehen und unsere Grenzen setzen, sind wir wie beflügelt. Auch dann, wenn uns das Angst macht. Wenn wir beginnen uns zu fragen, weshalb wir wütend werden oder weshalb Wut in unserem Leben keine Rolle spielt, dann erreichen wir Punkte, in denen Aussagen, von welchen wir felsenfest überzeugt waren, plötzlich nicht mehr wahr sind. So verstehen wir irgendwann besser, wer wir sind und wieso wir so sind. Und vielleicht, ganz vielleicht, führen wir dann sogar ein selbstbestimmtes und erfülltes Leben.