
WUT.
Es gibt genügend Gründe, um wütend zu sein. Und doch wird Wut in unserer Gesellschaft ausgeklammert. Sie ist eine Emotion, die jede:r zunächst zu entdecken hat. Ähnlich wie bei Trauer und auch Angst, wird ihr bereits in uns drin nicht immer ein Platz gegeben. Wir haben es nicht gelernt, sie in unser Leben zu lassen. Und wir haben es nicht gelernt, sie auszuleben, damit sie auch wieder verschwinden darf. Stattdessen wird sie erst gar nicht wahrgenommen und aktiv verdrängt, sodass sich eine Menge anstaut.
Ich denke ausschlaggebend für die Wut ist die Ungerechtigkeit, aus ihr heraus entsteht sie. Und Ungerechtigkeiten gibt es viele, wenn sie strukturell sind, kennen wir sie als Diskriminierungen. Man muss nicht selbst betroffen sein, um Wut zu verspüren. Wütend kann man auch wegen Ungerechtigkeiten sein, die man selbst nicht erleben muss, sie hat dann aber auch etwas mit uns zu tun. Denn sie zeigt, was uns wichtig ist im Leben, zum Beispiel, dass alle Menschen gut behandelt werden. Es ist eine empathische Wut, die Anteilnahme zeigt. Hier in diesem Text geht es um die Wut, die man wegen sich selbst verspürt. Und die sich durch frühere Erfahrungen entwickelt hat, in uns konserviert wurde und plötzlich da ist. Und nach all den Jahren gefühlt werden will.
Es gibt viele Menschen, die mit der Zeit ein anderes Sehen lernen. Sie erkennen durch ganz individuelle Situationen, dass ihnen (als Kind) Unrecht angetan wurde. Es ist wie eine Schablone, die man dann über sein Leben legen kann und die Sicht erst klar werden lässt. Und anfangs nutzt man diese Schablone übereifrig – hier und hier und hier wurde nicht gut mit mir umgegangen! – und da ist sie dann, die Wut. Man bemerkt wie immer wieder etwas in einem tobt. Diese Flamme ist so mächtig, dass man einfach überwältigt davon ist, was so lange in einem geschlummert hat. Durch diese Wut werden auch Situationen in der Gegenwart nun anders wahrgenommen, vielleicht meint man Mechanismen wiederzuerkennen, von denen man jetzt weiß, dass sie schädlich sind. Nicht immer entspricht das der Wahrheit. Doch anfangs wird alles, was auch nur ansatzweise zu dieser Verletzung passt, zusammengeworfen. Für mich wurde es eine zentrale Notwendigkeit, meine Realität abzuchecken: ich befinde mich nicht in meiner Vergangenheit, diese Situation ist keine aus meiner Vergangenheit und auch die (Beziehung zu dieser) Person ist keine aus meiner Vergangenheit. Und doch denke ich nicht immer daran und nicht immer funktioniert es. Manchmal befinde ich mich noch in Automatismen, vor allem, wenn ich nicht auf meinen Handlungsspielraum zugreifen kann. Also wenn ich müde, hungrig, gestresst bin – einfach keine Kapazität habe.
Wut ist zerstörerisch, nach außen wie auch nach innen. All das Wutanstauen, hat etwas mit einem gemacht. Es war ein riesiger Haufen an Emotionen, der nirgendwo Platz gefunden hat. In ihm verknäult waren auch viele andere Emotionen. Bei mir vor allem eine unfassbare Traurigkeit. Ich hatte das Gefühl, dass all der Schmerz aus mir raus musste. Meine Traurigkeit kenne ich sehr gut, meine Wut dagegen nicht. Wenn man seine eigene Wut kennenlernt, dann ist sie nicht mehr zerstörerisch, sie hilft. Mit Wut fühlt man sich lebendig, angetrieben und auch zielgerichtet. Irgendwie fühlt man sich im Recht, da man sich beschützt und für sich einsteht. Auch wenn Wut vor allem eins ist: anstrengend. Denn wenn diese Wut, die sich aus einer langjährigen Ungerechtigkeit entwickelt hat, wieder verschwindet, dann bleibt eine ganz große Erschöpfung zurück. Und die Wut beginnt einem zu fehlen. Ich bin froh darüber – und vielleicht noch wichtiger, ich weiß, dass es notwendig war – ihr einen so großen Platz in meinem Leben gegeben zu haben. Doch es ist eine alte Wut, die mich auch daran hindert, mich von Vergangenem zu befreien. In der letzten Zeit habe ich begriffen, dass es okay ist, alte Wut auch wieder gehen zu lassen. Diese Flamme wird wahrscheinlich nie komplett erlöschen, doch sie muss nicht wieder größer werden. Es kann eine Wut werden, die zu heilen beginnt. Das Bedürfnis, in die Welt hinauszuschreien, darf weniger werden.
Vielleicht braucht man einen bestimmten Platz für seine Wut, damit sie einen nicht aus Versehen verschlingt, wenn sie erneut kein Gehör bekommen hat. Denn wütend darf und muss man trotzdem bleiben. Es gibt schließlich so Vieles, bei dem es sich lohnt, dass Wut einem Kraft zu Veränderung gibt. Fühle all deine Emotionen, auch deine Wut.