Wer Schmetterlinge lachen hört, der weiß wie Wolken schmecken.
Albert Einstein
[…] Der Wind wehte ihm um die Ohren, als die beiden endlich auf ihren Fahrrädern saßen. Sie war das Tal nach oben gerannt und in der Dunkelheit konnte er nicht mehr mit ihr Schritt halten. Zu viele Steine und Büsche beschwerten den Abstieg von dem Hang. Doch auf dem kleinen Waldweg war sie es nun, die ihm folgte. Gezwungenermaßen – er war der von Beiden, der die richtige Richtung kannte. Gerade als sie den Waldrand erreicht hatten, hörte er sie von hinten rufen. „Warte! Hey, anhalten!“, er bremste so schnell, dass sie beinahe in ihn hineingefahren wäre. „Was ist denn?“, seine Stimme klang leicht genervt. Inzwischen war es ziemlich kalt geworden und Müdigkeit überkam ihn. „Jetzt tu doch nicht so. Guck mal.“, mit ihrem Finger deutete sie nach oben. Er verstand nicht, worauf sie hinaus wollte. „Und was soll da oben sein?“, manchmal konnte er ziemlich ungeduldig werden. Sie blickte ihn nachdenklich an. Dann drehte sie ihren Kopf zum Himmel und schrie in die finstere Nacht hinein. Kurz, nur etwa eine halbe Sekunde nach ihrem Schrei hielt sie inne. Dann noch einen Schrei. Sie drehte ihren Körper im Kreis, sodass ihr Oberteil vom Wind nach oben getragen wurde und um sie herum flatterte. Immer wieder hielt sie inne, bis sie zu einem nächsten Schrei ansetzte. Drehte sich weiter und weiter – und schrie. Währenddessen stand er entsetzt neben ihr. Entsetzt, nicht überrascht. Er beobachtete das Schauspiel aus Geschrei und Drehbewegungen. Beobachtete, wie sie einen Schrei nach dem anderen in die finstere Nacht setzte. Sah zu, wie Töne in die Dunkelheit gesetzt wurden. Unsichtbar, aber energiegeladen, als seien sie ein riesiges Feuerwerk aus roten, orangenen und gelben Farben. Er konnte das Gefühl, das ihre Schreie in ihm auslösten kaum greifen. Sie waren flüchtig, wie ihre Stimme selbst. Jede Pause schien länger zu werden und ihm immer wieder zu zeigen, dass Töne verklingen. Ganz egal, wie kräftig sie auch schrie. Jeder einzelne Ton wurde von der Nacht verschluckt und wenn doch einmal einzelne Frequenzen zurückgeworfen wurden, dauerte es nicht lange und auch diese glühten aus. Wie lange hatte sie dieses Feuerwerk entfacht? Zeit im Stillstand, während sie sich in Kreisbewegungen forttrug. Lachend warf sie sich auf den trockenen Feldweg. Er trat einen Schritt näher auf sie zu und betrachtete ihr glühendes Gesicht von oben: „Bist du fertig?“, seine Stimme klang nicht mehr genervt oder erstaunt, wohl aber amüsiert. „Ich bin nie fertig.“, sie grinste und streckte ihm ihre Hand entgegen. „Kommst du zu mir? Noch ist der Tag nicht vorbei. Noch haben wir Zeit.“ Er nahm ihre Hand und ließ sich auf den Boden ziehen. Dabei verlor er das Gleichgewicht, fiel auf sie zu, konnte sich aber im richtigen Moment mit seiner rechten Hand auffangen. Er befand sich jetzt genau über ihrem Gesicht. Ihre kleine Nase war knapp unter seiner und er konnte ihren Atem auf seinen Lippen spüren. Ihre Blicke trafen sich. Für eine Millisekunde sah er etwas in ihr aufblitzen. So schnell es aufgeflackert war, wurde es in einem Meer aus Dunkelheit verschluckt. Wie war das noch gleich – Augen das Tor zur Seele? Seltsam rationale Gedanken überkamen ihn und für einen Moment saß er wieder im Vorlesungssaal und hörte seinen Professor über Blumenberg philosophieren. „Kein Mensch kann seine eigene Augen erkennen. Zwar kann eine Person sich im Spiegel betrachten, doch immer nur aus einer Reflektion heraus. Der eigene Blick in die Augen ist nie unmittelbar. Mit den Augen etwas vorzuspielen ist unmöglich, weil noch kein Mensch sich selbst beobachten konnte, wie er auf Situationen reagiert. Auch Videoaufnahmen schaffen nicht das, was eine direkte und wahre zwischenmenschliche Begegnung erzeugt. Unbefleckte Reaktionen sehen wir nur in den Augen eines Gegenübers. Blumenberg sieht das als Grund dafür, dass blinde Personen eher zu Vertrauen und Unvoreingenommenheit neigen, während es bei Tauben genau andersherum ist.“ „Bist du eingefroren?“, er war so in Gedanken gewesen, dass er gar nicht gemerkt hatte, wo er sich befand. „Entschuldige.“, er sah sie verlegen aber sanft an und drehte sich dann zur Seite. „Was sollte das gerade, weshalb wolltest du, dass ich stehen bleibe?“, er war noch nicht dahinter gekommen, was sie ihm zeigen wollte. Die Nacht war düster und der Himmel bewölkt. Nicht ein einziger Stern oder etwas vergleichbar ästhetisches war am Himmel zu sehen. „Mir ist eine Antwort eingefallen. Als ich in den Himmel geblickt habe und die Dunkelheit alle Sterne und den Mond verschluckt haben. Ich glaube ich weiß was an deiner Theorie falsch ist. Ich dachte, wenn du hinaufguckst siehst du es vielleicht auch.“, während ihre Worte die Umgebung erleuchteten, war ihr Blick starr in den Himmel gerichtet. „Verrätst du es mir denn?“, seine Ungeduld und Müdigkeit war wie weggeblasen, ehrliche Neugierde klang seiner Stimme nach. „Na also du meintest ja, dass manche Menschen einfach nur ihr Licht wiederfinden müssen, damit sie es aus der Dunkelheit schaffen. Dass sie sozusagen feststecken, weil sie ihr Licht verloren haben.“, aufmerksam lauschte er ihrer Stimme und beobachtete die verschiedenen Grauschattierungen der vorbeiziehenden Wolken am Himmel. „Aber Licht ist nichts, was wir verlieren. Dunkelheit entsteht nur dann, wenn irgend etwas das Licht abschirmt. Manchmal hinterlassen Erlebnisse Löcher und Krater in uns. Genau diese Löcher sind es ja, in die kein Licht mehr eindringen kann, vielleicht weil sie so unglaublich tief sind. Das Loch bleibt einfach da, in gewisser Weise für immer. Vielleicht wird es mit der Zeit sogar größer – das haben wir nicht unter Kontrolle. Aber wir können uns entscheiden, ob wir im Loch sitzen oder uns einfach auf seinen Rand setzen. Wir können uns entscheiden, ob wir oben sitzen und während wir vom Licht angestrahlt werden, wissen wir, dass da Dunkelheit unter uns ist. Ich glaube die Frage nach Licht und Dunkelheit ist eine Frage der Gleichzeitigkeit. Die Nacht ist die Dunkelheit der Welt. Aber auch nachts stehen Sterne und Mond am Himmel und wir können uns entscheiden, ob wir denken die Nacht ist düster oder mit Glanzlichtern verziert. Auch wenn es dort oben unendlich weit in die Dunkelheit geht, so können wir einfach das Licht der Sterne betrachten, sie sind unser Ankerpunkt. Mehr noch – ohne die unendliche Dunkelheit dahinter hätten all die Sterne kein so wunderschönes Strahlen. Die Tiefe der Dunkelheit ist es, die es möglich macht, dass auch das Licht eine ungeheure Weite erfährt. Wenn es hier unten bei uns zu hell ist, können wir die Sterne kaum noch sehen. Was aber, wenn wir inmitten von tiefer Dunkelheit stehen? – Umso dunkler die Nacht, desto heller die Sterne. Es ist nicht richtig zu sagen, wir müssen unser Licht wiederfinden; Finden impliziert, dass wir etwas verloren haben. Wir müssen es viel eher neu entdecken. Es ist die ganze Zeit da – doch durch die neue Dunkelheit ist jetzt auch unser Licht neu. Ich glaube zu viele Menschen suchen nach ihrem alten Licht und bemerken derweilen gar nicht, dass da ein Licht ist, das noch viel heller strahlt, als alles was sie davor kannten.“. Er musste ihre Worte erst verarbeiten. Das war ihr einfach so eingefallen, während sie in den Himmel geblickt hatte? „Heute stehen am Himmel weder Sterne noch Mond. Es ist bewölkt.“, er wollte ihr nicht widersprechen, hatte aber das Gefühl, dass da noch mehr in ihr schlummerte, das ausgesprochen werden wollte. „Genau das ist es ja. Niemand kann erwarten, dass du immer strahlst, nur weil du erkannt hast, dass du es jetzt noch besser kannst. Es gibt auch solche Tage. Bewölkte Tage, an denen du weißt, dass da hinten irgendwo ein Strahlen ist. Dieses Wissen nützt dir aber nichts, weil da eine Barriere zwischen dir und all deinen Sternen ist. Eine Barriere, die gefühlt werden möchte, um verschwinden zu können. Sonst bleibt immer ein Teil von ihr da. Eben so wie Wolken entweder ausbrechen oder vom Wind weggetragen werden können. Aber stell dir vor, Wolken würden nie wieder regnen. Nur da, wo der Wind gerade eben gut steht und alle Wolken wegträgt – nur dort kann auch mal das Licht hindurch dringen. Dann wären da irgendwann so viele Wolken am Himmel, dass nicht einmal der Wind etwas ausrichten könnte.“, sie machte eine kurze Pause und setzte dann wieder an. „Genau wie die Dunkelheit immer wieder gespürt werden möchte, weil sie ein Teil der Schönheit, des Strahlens ist. Genauso müssen Wolken ausbrechen und all das Wasser ablaufen lassen. Damit nicht nur der Himmel dahinter wieder erleuchten, sondern auch die Erde wieder voll Energie und Leben aufblühen kann.“, bei jedem ihrer Worte füllte sich die Umgebung mit Wärme. „Also ist das, was du sagst, dass wir eben nicht unser Licht wiederfinden müssen, sondern zuerst verstehen müssen, dass das Licht das wir bis jetzt gekannt haben nie wieder da sein wird. Aber an der Stelle, an der das Licht einmal war, ein ganz neues, viel tieferes und strahlenderes Licht ist? Ein Licht, das wir vielleicht noch gar nicht als eines erkennen, weil es eine ganz neue Beschaffenheit hat. Aber damit dieses Strahlen erhalten bleibt, müssen wir immer wieder an den Kontrast zur Dunkelheit erinnert werden – mehr noch, wir müssen ihn immer wieder spüren.“, er sprach es aus, um sich selbst noch einmal zu überzeugen. „Ja! Und, dass es immer leichter wird diese Dunkelheit zu spüren. Weil es ja nur Wolken sind. Es ist nicht die Dunkelheit selbst – wir werden nicht gezwungen eine Situation wieder zu erleben, sondern einfach nur daran erinnert. Auch, wenn es sich unglaublich echt anfühlt. Die Situation ist vorbei. Wir haben sie bereits überlebt und zurück bleibt nur der Schatten einer Erinnerung. Wenn wir das verstehen haben wir die Gewissheit, dass hinter der Wolkenfront ein leuchtender Sternenhimmel auf uns wartet.“ Er neigte seinen Kopf zu ihr herüber: „Vielleicht ist es genau diese Gewissheit, die hoffnungslose Menschen von hoffnungsvollen unterscheidet.“