Idylle im Garten. Sonnenstrahlen kitzeln meine Nase, mein Blick ist zum Himmel gerichtet. Die Worte aus dem Gespräch gerade mit meiner Freundin, hallen noch in meinem Kopf nach. Sie liegt direkt neben mir auf der grünen Wiese. Heute ist ein guter Tag. Einer dieser Tage, an denen man die Vögel singen hört, die Blätter rascheln und die Luft frischer als sonst ist. Zumindest scheint es so. Dann: Driiiing! Vom Armband meiner Freundin schallt ein unangenehm lautes Klingeln in mein Ohr, nur ganz kurz. “Was war das?”, ich blicke sie etwas verwirrt an. Sie, stolz wie ein Honigkuchenpferd: “Das ist mein neuer Schrittzähler! Der zählt meine Schritte.”, gut dass sie mir das noch erklärt hat, ich wäre sicher nicht selbst darauf gekommen. Ein Schrittzähler also. “Was will der denn? Du liegst doch.”, sie guckt von meinem Gesicht herunter auf ihr neues Armband. “Da steht, dass ich nur noch 2000 Schritte brauche, bis ich mein Tagesziel erreicht habe. Dann bin ich heute 15.000 Schritte gelaufen, cool oder?”
“Ja genau, total cool.”, sage ich und denke mir – was für ein Bullshit.
Klärbedarf Quantified-Self: Das bedeutet, dass du deinen körperlichen und psychischen Zustand anhand von Zahlen erfasst und daraufhin verbessern kannst. Du kannst beispielsweise deine Schritte zählen und daraus dann auf deine körperliche oder emotionale Gesundheit schließen. Man kann auch den Schlaf analysieren, die Periode aufzeichnen, Kalorien zählen, oder tracken, wie viel Wasser man trinkt. Das soll dann helfen, gesundheitliche Werte zu verbessern. Wenn du bemerkst, dass du zu wenige Kalorien isst, die Periode unregelmäßig kommt oder dein Gewicht (auch eine Art der Selbstmessung) nicht im “Normalbereich” liegt, kannst du anhand dieser Werte deine Handlungen ändern.
Klingt alles erst einmal sehr positiv: mehr Gesundheit? Gut. Ist das wirklich so? Um zu verstehen, was eigentlich alles mit dazugehört, wenn ich mich an solchen Technologien bediene, ist es notwendig, deren Ursprung besser zu verstehen. Die Quantified-Self Bewegung gehört in den Bereich des Transhumanismus. Was konkret bedeutet das eigentlich?
Ein typisches Merkmal des Transhumanismus ist beispielsweise das Streben nach einer extremen Lebensverlängerung bis hin zu Unsterblichkeit. Ganz logisch: Wenn eine Spezies unsterblich ist, hat sie unendlich viel Zeit, sich selbst zu verbessern. Die Evolution gilt hier als allgemein unabgeschlossen – die Selbstverbesserung hat demnach nie ein Ende. Hinzu kommen Cyborgs, also Mischwesen aus Mensch und Maschine. Man denke an eine Folge aus der Serie “The Big Bang Theorie”, in der Sheldon Cooper, einer der Hauptrollen, nicht aus seinem Zimmer herauskommen möchte und stattdessen einen Computer, ausgestattet mit T-Shirt und Rollen, benutzt, um mit seinen Freunden zu sprechen. Auch Kryonik wird hauptsächlich von Transhumanist*innen betrieben – gemeint ist das Einfrieren des Körpers, um sich wieder auftauen zu lassen, sobald Unsterblichkeit möglich wird. Insgesamt geht es Transhumanist*innen also darum, sich vom gegenwärtig beschaffenen Menschen abzulösen und auf die nächste Evolutionsstufe zu gelangen. Durch die Hilfe von modernen Technologien soll ein Supermensch geschaffen werden: Der Mensch X.0.
Klingt alles total abgespaced und surreal? Ganz so, als wäre es sehr weit entfernte Zukunft? Dabei gibt es heutzutage durchaus Technologien, die dem Transhumanismus zugeschrieben werden können. Sich selbst in Form von Zahlen auszumessen ist nur ein kleiner Teil davon. Auch körperliche Verbesserungen durch Make-Up, Implantate, Training oder Prothesen haben den Zweck, menschliche Defizite zu beheben. Präimplantationsdiagnostik ist heute in einigen Teilen der Welt erlaubt und vor allem: es ist möglich. Vor einigen Jahren konnte man sich nicht vorstellen, dass es denkbar ist, über menschliches Leben zu urteilen, während es sich sinnbildlich gerade in einem Reagenzglas befindet.
Auch mental können wir uns optimieren. Wir können durch Tabletten oder Pillen unsere geistigen Fähigkeiten verbessern und durch sogenannte “Extended-Mind Technologien” erweitern. Navigationssysteme, Telefon-Kontaktlisten oder Wikipediabeiträge sind Beispiele dafür. Technologisch gesehen war es viele Jahre unmöglich, dass Maschinen Muster erkennen und vorhersehend Handeln können – heute haben wir bereits Technologien wie den Autopilot und das intelligente Auto. Wie lange wird es wohl noch dauern, bis Transhumanist*innen Gehirnimplantate einpflanzen oder Gehirne uploaden können? Oder anhand von Pharmazeutika und Eingriffen in menschliche Gene sogar moralische Veränderungen bewirken? Etwa durch Unterdrückung von moralisch schlechten Eigenschaften, wie Wut, und Förderung moralisch guter Eigenschaften, wie Besonnenheit.
Das ist ein extrem fragwürdiges Bestreben. Wo soll es aufhören? Wenn ich anfange mich anhand von Zahlen zu messen und zu erfassen, reduziere ich mich auf eine Handvoll Nummern. Wenn ich durch diese Zahlen meine Fähigkeiten und Eigenschaften verbessere, mache ich mich von ihnen abhängig. Mehr noch – ich mache mich messbar, kontrollierbar und bewertbar. Sind wir wirklich nur das? Eine Zahlenansammlung, welche sich kontrollierbar macht? Mein Verständnis über den Menschen ist ein anderes. Zu meinem Verständnis gehört Freiheit. An einem Tag so viel zu laufen, wie ich möchte. Nicht, weil mein Armband mir sagt, ich solle doch noch einmal 2000 Schritte mehr gehen. Was, wenn nicht? Bin ich dann weniger wertvoll oder weniger gesund? Weiß mein Armband denn, ob ich heute zusätzlich noch eine Stunde getanzt habe oder ob ich vielleicht nur zwei Stunden Schlaf hatte oder ob ich krank bin oder ob ich einfach keine Lust habe oder ob ich gerade etwas ganz anderes benötige, wie ein langes Gespräch mit Freunden? Nein. Das mit dem Schlaf muss ich zurücknehmen, mein Armband weiß vermutlich wann und wie viel ich schlafe. Wahrscheinlich sogar besser als ich. Aber wie fühle ich mich denn? Bin ich trotzdem ausgeruht? Auch wenn ich heute acht Stunden geschlafen habe – bin ich vielleicht dennoch müde?
Sicherlich werden Technologien uns irgendwann alle oben genannten Fragen beantworten können. Was nützt es mir? Ich weiß doch selbst, ob ich mich heute ausgeruht fühle. Ich weiß doch selbst, ob ich mich heute bewegt habe, ob ich an der frischen Luft war.
Weiß ich nicht eigentlich selbst, was mir wirklich guttut? Wenn ich Zahlen brauche, um mich daran zu erinnern, dann habe ich lange vergessen, auf meinen Körper zu hören. Wenn ich Zahlen brauche, die mir sagen ob ich Hunger habe, dann sollte mein Ziel sein, in Zukunft wieder meinen Hunger zu spüren. Dasselbe gilt für den Hunger nach Leben, Musik, Schlaf und nach Bewegung – das alles sind schöne Dinge und die brauchen wir. Innerhalb von einem Gerüst aus Freiheit und freien Entscheidungen. Was wir nicht brauchen sind Technologien, die berechnen, dass Bewegung guttut. Das weiß ich auch so. Auf einem Level, das vollkommen ausreicht. Statt einer Zukunft, in der Mensch quasi Maschine ist, stelle ich mir lieber vor, wie wir frei sind. Wie ich den ganzen Tag zuhause sitze und lese, wie ich zwei Stunden durch meine Wohnung tanze, wie ich einen Burger esse, weil ich hungrig bin und das obwohl ich heute vielleicht schon viel gegessen habe. Ich will frei sein. Frei von Zahlen, frei von Regeln. Frei von irgendwelchen Experten, die mir anhand von Massenberechnungen und Durchschnittswerten vorgaukeln, dass ich Teil dieses Durchschnitts bin. Was wenn nicht? Frei sein, das bedeutet für mich auch, ich zu sein. Ist das nicht das Einzige und Wertvollste, was ich in meinem Leben habe?